Klima-Crash im Elfenbeinturm
Wie Wirtschaft und Wissenschaft an der Klimakrise scheitern
Die Einsicht, dass die kapitalistische Weltgesellschaft die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit auf Dauer zerstört, ist keineswegs neu. Bereits 1972 warnte der Club of Rome in seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ eindringlich vor den ökologischen Folgen eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums. Auch politisch wurden die Risiken kontinuierlich steigender Produktion und Ressourcenvernutzung früh erkannt: Schon 1979 fand die erste Weltklimakonferenz unter dem Dach der Vereinten Nationen statt. Dennoch ist der globale Ressourcenverbrauch seither nicht etwa gesunken, sondern in alarmierendem Maße gestiegen. So hat sich der weltweite Materialverbrauch von etwa 27 Milliarden Tonnen im Jahr 1970 auf über 100 Milliarden Tonnen im Jahr 2019 nahezu vervierfacht.[1] Der jährliche CO₂-Ausstoß erreichte 2023 mit rund 37 Milliarden Tonnen einen neuen Höchststand.[2] Auch das Artensterben beschleunigt sich dramatisch: Laut dem Weltbiodiversitätsrat (IPBES) sind bis zu eine Million Arten vom Aussterben bedroht – ein Verlust, der mittlerweile selbst im Alltagsleben spürbar ist.[3]
In den Natur- und Sozialwissenschaften, aber auch in der Technik, wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Erkenntnisse und Methoden entwickelt, die es ermöglichen könnten, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei die natürlichen Lebensgrundlagen systematisch zu zerstören. Beispiele dafür reichen von ressourcenschonenden Produktionsverfahren über alternative Formen der Mobilität bis hin zu neuen Ansätzen im Bereich der Energieversorgung. Die Klimagerechtigkeitsbewegung verweist immer wieder auf diese Potenziale und darauf, dass es nicht an konkreten Möglichkeiten mangelt, sondern an deren gesellschaftlicher Umsetzung.
Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als dass nicht zuletzt die Universitäten in den vergangenen Jahrzehnten viel Wissen darüber hervorgebracht haben, wie sich das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur grundlegend anders gestalten ließe. Doch woher kommt es, dass trotz dieses Wissens keinerlei politische Kurskorrektur erfolgt? Die Gründe dafür liegen nicht in einem Mangel an Innovation oder Kreativität, sondern sind grundlegend in der „Natur“ der kapitalistischen Gesellschaft angelegt. Zum einen ist das kapitalistische Gesellschaftssystem auf ständige Expansion und Verwertung ausgerichtet – eine Dynamik, die mit den endlichen Ressourcen der Erde nicht vereinbar ist. Darüber hinaus lassen sich innerhalb dieser Gesellschaft stofflich-technische Lösungen immer nur dann realisieren, wenn sie sich in die Logik von Markt und abstraktem, staatlich gesetztem Recht übersetzen lassen.
Kapitalismus und Wachstum
Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das im Kern darauf basiert, aus Geld mehr Geld zu machen. In seinem Zentrum steht nicht die Befriedigung konkreter Bedürfnisse, sondern die stetige Verwertung von Kapital.[4] Dieser Prozess ist untrennbar mit dem Verbrauch natürlicher Ressourcen verbunden: Um Profite zu erzielen, müssen Rohstoffe gefördert, verarbeitet und verkauft werden – die Natur dient dabei als bloßer Lieferant verwertbarer „Ressourcen“.
Die Klimakrise ist eine weltgesellschaftliche Herausforderung, die sich nur als globale Anstrengung meistern lässt. Doch die kapitalistische Weltwirtschaft ist in zahlreiche konkurrierende Unternehmen und Staaten zersplittert. Diese Konkurrenz verhindert eine koordinierte, solidarische Lösung. Warum das so ist, lässt sich auf mehreren Ebenen erklären. Im Folgenden soll vor allem die Logik der modernen Warengesellschaft beleuchtet und untersucht werden, welche Folgen sie für das Verhältnis von Gesellschaft und Natur hat.
Im Kapitalismus herrscht eine nie endende Steigerungslogik. Die Menschen sind hier strukturell voneinander getrennt und auf den Verkauf von Waren angewiesen, um ihre Existenz zu sichern.[5] Wer Waren produziert, tut dies nicht, um sie selbst zu nutzen, sondern um sie zu verkaufen und im Gegenzug Geld – das allgemeine Äquivalent in der Warengesellschaft – zu erhalten. Der Konkurrenzdruck zwingt Unternehmen dazu, immer effizienter zu produzieren, technologische Innovationen voranzutreiben und so ihre Marktposition zu sichern. Diese Rationalität ist jedoch auf die einzelne betriebswirtschaftliche Einheit beschränkt und führt gesamtgesellschaftlich zu einer paradoxen Irrationalität: Während jede Firma versucht, sich Vorteile zu verschaffen, werden gesamtgesellschaftlich Ressourcen verschwendet und ökologische Schäden in Kauf genommen.
Nehmen wir ein bekanntes und leicht verständliches Beispiel: Um die eigenen Gewinne zu maximieren, wird ein im Süden Deutschlands ansässiger milchverarbeitender Großbetrieb seine Betriebsgeheimnisse hüten und mit gezielten Werbekampagnen versuchen, seine Produkte auch nördlich des Weißwurstäquators zu verkaufen. So macht sich Tag für Tag ein Lastwagen auf den Weg, um die begehrten Milchprodukte quer durch die Republik zu transportieren – etwa bis nach Lübeck.
In Lübeck wiederum gibt es ebenfalls einen großen milchverarbeitenden Betrieb. Auch dort werden die eigenen Rezepturen und Produktionsweisen sorgfältig geschützt, und auch dieser Betrieb versucht, seine Produkte in ganz Deutschland zu platzieren. Dafür werden wiederum Lastwagen beladen, betankt und auf die Reise geschickt – diesmal in die entgegengesetzte Richtung.
Offensichtlich trägt dieses Vorgehen weder zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung bei, noch ist es im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Ressourcen oder eines geringen Schadstoffausstoßes sinnvoll. Rational erscheint es lediglich aus der Perspektive der einzelnen Unternehmen, die im Wettbewerb bestehen und Gewinne erzielen wollen. Beide Betriebe können sich auf dem Markt behaupten – die damit verbundenen ökologischen und gesellschaftlichen Kosten spielen in dieser Logik jedoch keine Rolle. Denn sie sind (wie wir noch sehen werden) strukturell ausgelagert. Sie fallen für den jeweiligen Betrieb nicht ins Gewicht und werden deshalb auch nicht berücksichtigt.
Die betriebswirtschaftliche Konkurrenz ist also offensichtlich nicht geeignet, das gesellschaftlich vorhandene Wissen effektiv einzusetzen. Stattdessen kommt es zum sogenannten Rebound-Effekt: Technische Fortschritte, die eigentlich den Ressourcenverbrauch oder Schadstoffausstoß senken könnten, werden durch die Ausweitung der Produktion wieder aufgehoben. Jede Effizienzsteigerung führt zu einer Erhöhung der Produktion, sodass der absolute Ressourcenverbrauch stetig ansteigt.
Ein zentraler Hintergrund dieser Entwicklung ist, dass die kapitalistische Dynamik aus der Beziehung von zwei ganz unterschiedlichen Aspekten unserer gesellschaftlichen Realität entsteht. Einerseits begegnen uns die Dinge des Alltags als Gebrauchswerte − sie sind nützliche Dinge, die unsere Bedürfnisse befriedigen können. Andererseits haben sie als Waren auch einen Tauschwert, da wir sie vor ihrer Nutzung am Markt kaufen müssen. Beide Seiten sind im Kapitalismus untrennbar miteinander verbunden, beschreiben aber unterschiedliche Dimensionen: Die eine richtet sich auf den konkreten Nutzen, die andere auf den abstrakten Tauschwert, der sich in Geld bemisst.
Schauen wir auf eine Ware als Gebrauchswert, steht ihre Nützlichkeit im Vordergrund. Hier setzt auch die Klimagerechtigkeitsbewegung an, wenn sie betont, dass die Möglichkeiten für eine ökologisch gerechte und sozial sinnvolle Gestaltung der Gesellschaft längst vorhanden sind – sei es in Form von Wissen, Technik oder menschlichen Fähigkeiten. Doch sobald die Ware als Tauschwert betrachtet wird, treten ihre nützlichen Aspekte in den Hintergrund. Entscheidend ist dann nur noch, ob sie sich am Markt durchsetzen lässt, ob sie „bezahlbar“ ist, ob sie in die Logik von Ware und Geld passt. Gelingt es nicht, einen Gegenstand oder eine Dienstleistung durch das Nadelöhr funktionierender Marktbeziehungen zu schleusen, bleibt ihr konkreter Nutzen gesellschaftlich bedeutungslos – unabhängig davon, wie dringend sie gebraucht oder wie leicht sie bereitgestellt werden könnte.
Wenn gesellschaftliche Veränderungen, die ökologisch oder sozial wünschenswert wären, nicht mit den Mechanismen des Marktes vereinbar sind, werden sie ausgebremst oder gar nicht erst angestoßen. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines grundlegenden Widerspruchs: Die kapitalistische Vermittlungsform der Ware ist nicht in der Lage, die vorhandenen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnisse in gesellschaftliche Realität zu übersetzen. Dieser Skandal gehört ins Zentrum jeder politischen Auseinandersetzung um Klimagerechtigkeit und gesellschaftliche Transformation.
Ein besonders anschauliches Beispiel für diesen Widerspruch ist die sogenannte geplante Obsoleszenz. Hier werden Produkte absichtlich so konstruiert, dass sie schneller verschleißen oder sich nicht vollständig nutzen lassen – etwa durch technische Schwachstellen, künstliche Funktionseinschränkungen oder Verpackungen, die dafür sorgen, dass Ketchup, Senf oder Zahnpasta in sehr großzügigen Mengen aus der Packung fließen.[6] Ziel ist es nicht, den Gebrauchswert für die Nutzer:innen zu maximieren, sondern den Absatz und damit den Gewinn zu steigern. Die Nützlichkeit wird also systematisch zugunsten des Profits beschnitten. Und diese Reduktion hat ihre Ursache nicht im schlechten Charakter der Beteiligten, sondern in dem systemischen Setting, in das sie eingebunden sind.
Kapitalismus und Externalisierung
Entscheidend ist hier nicht mehr, was unmittelbar zur materiellen und sozialen Reproduktion der Gesellschaft beiträgt, sondern ausschließlich das, was sich in Geldgrößen ausdrücken lässt. Wie im ersten Teil dieser Broschüre erläutert, ist das eine Folge der besonderen gesellschaftlichen Vermittlung im Kapitalismus: Weil sich Menschen hier nicht direkt, sondern über die Produkte ihrer Arbeit miteinander in Beziehung setzen, wird die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zur maßgeblichen Größe. Die konkreten Qualitäten und Besonderheiten der einzelnen Tätigkeiten treten in den Hintergrund; entscheidend ist allein ihre Reduzierbarkeit auf Quantität, auf ein Mehr oder Weniger an „Wert“.
Karl Marx beschreibt diese Dimension als „abstrakte Arbeit“: Sie abstrahiert von den konkreten Nützlichkeiten und Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeiten und macht sie vergleichbar und austauschbar. Daraus ergibt sich eine spezifische Form von Reichtum, die wir als „abstrakten Reichtum“ bezeichnen können. Alles, was sich nicht in diese abstrakte Form übersetzen lässt, wird im Kapitalismus gesellschaftlich abgewertet, unsichtbar gemacht oder im Zweifel auch zerstört – das gilt für ökologische Grundlagen ebenso wie für unbezahlte Care-Tätigkeiten in der Familie oder ehrenamtliches Engagement.[7]
Der eindimensionale Charakter dieses Reichtums zeigt sich auch darin, wie er gemessen wird: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) reduziert die unzähligen Facetten gesellschaftlichen Lebens auf eine einzige Kennzahl. Das BIP ist zu Recht vielfach kritisiert worden – etwa, weil es auch gesellschaftlich schädliche Aktivitäten wie Autounfälle oder Umweltzerstörung als „Wachstum“ verbucht, während viele lebenswichtige Tätigkeiten wie ehrenamtliche Arbeit oder unbezahlte Pflege im Familienkontext gar nicht erfasst werden. Auch die Zerstörung natürlicher Ressourcen erscheint im BIP nicht als Verlust. Insgesamt ist das BIP also ein fragwürdiger Indikator, der zentrale Aspekte gesellschaftlichen Wohlstands systematisch ausblendet.
Doch das Problem liegt tiefer: Nicht die Wahl des falschen Indikators ist das eigentliche Dilemma, sondern die Form des Reichtums selbst, die unsere Lebenswelt auf reine Quantität reduziert. Für eine Gesellschaft, die auf der Vermehrung von abstraktem Reichtum beruht, ist es nur folgerichtig, einen Indikator zu verwenden, der genau das misst. Am BIP lässt sich ablesen, was grundlegend im Argen liegt – aber auch ein anderer Maßstab würde die dahinterliegenden Probleme nicht aus der Welt schaffen.
Mit der Ausrichtung des Kapitalismus auf die Unterwerfung der gesamten Welt unter die Logik des abstrakten Reichtums geht zwangsläufig die Ausblendung all dessen einher, was sich nicht in diese Logik pressen lässt. Auch die natürlichen Reichtümer der Erde werden rasch in diese abstrakte Form überführt: Sie werden in Privateigentum verwandelt und exklusiv der Nutzung durch die Eigentümer:innen zugeordnet. Diese Monopolisierung ermöglicht es, die so in „Ressourcen“ verwandelten Naturgüter zu nutzen, um daraus Gewinne – sogenannte Renten – zu erzielen. Die Geschichte des Kapitalismus ist damit auch die Geschichte einer immer weiter fortschreitenden Überführung der natürlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen in Waren- und Eigentumsformen.
Diese Dynamik der Externalisierung – das systematische Ausblenden und Abwälzen von ökologischen und sozialen Kosten auf die Allgemeinheit – ist kein Betriebsunfall, sondern Ausdruck der kapitalistischen Logik selbst. Was sich nicht als abstrakter Reichtum darstellen lässt, bleibt im kapitalistischen System unsichtbar oder wird als irrelevant behandelt – mit allen bekannten Folgen.
Kapitalistisches Naturmanagement
Die oben angedeutete analytische Auftrennung des Kapitalismus in eine konkrete und eine abstrakte Sphäre hat in vielen gesellschaftskritischen Theorien dazu geführt, den Gebrauchswert und die gebrauchswertschaffende, konkrete Arbeit als das Gute anzusehen, das im Kapitalismus durch die abstrakte Dimension des (Tausch-)Werts beherrscht wird. Diese Perspektive übersieht jedoch, dass auch ein Blick auf die uns umgebende Welt als Gebrauchswert bereits die Vorstellung impliziert, dass es sich um eine für den Menschen nützliche Ressource handelt, die dann bemessen, zugerichtet und beherrscht werden kann (und soll). Sie impliziert eine (wissenschaftliche) Konstruktion, die wir als kapitalistisches Naturmanagement bezeichnen können.
Die kapitalistische Ökonomie beruht wesentlich darauf, auf frei verfügbare und beliebig kombinierbare Ressourcen zugreifen zu können. Dieser Zugriff erfolgt ohne Rücksicht auf ihre Einbettung in ökologische Zusammenhänge und setzt voraus, die Dinge als zergliederbar, berechenbar und zerstörbar zu begreifen. Was ist damit gemeint? Um die Möglichkeit des Kombinierens und Verfügens nutzen zu können, muss die Lebenswelt des Menschen als etwas aufgefasst werden, das in einzelne Teile zerlegt werden und dadurch neu angeordnet werden kann. Das wird im kapitalistischen Naturmanagement dadurch erreicht, dass die Welt in einzelne Bestandteile zerlegt wird, die als eigenständige, d.h. voneinander getrennte, Dinge betrachtet werden. Die menschliche Lebenswelt wird zudem als etwas aufgefasst, dass rational verstehbar und zudem mathematisch berechenbar ist. Wälder z.B. werden in Bezug auf ihre Größe, ihren Waldbestand oder ihre Fähigkeit zur CO2-Aufnahme dargestellt und verstanden. Darüber hinaus impliziert das kapitalistische Naturmanagement die Vorstellung, dass die Menschen die Dinge um sie herum als legitime Objekte für jede Veränderung wahrnehmen − was logisch auch ihre Zerstörung beinhaltet. Diese Perspektive ist die notwendige Grundlage für die Zerstörungspotenzen des Kapitalismus, die uns im Dannenröder Forst oder in Lützerath begegnet sind.
Die Versuche von Politik und Wirtschaft, die Klimakrise zu verstehen und Auswege aus ihr zu entwickeln, nutzen dieses spezifische Naturverständnis als Grundlage für ihre Strategien. Und auch die wissenschaftlichen Analysen beziehen sich zumeist auf diese Prämissen. Sie haben eine spezifische Denkform entwickelt, die uns allen geläufig ist und die die Grundlage auch für das kapitalistische Naturmanagement bildet.
Kapitalismus und Wissenschaft
Um einen berechtigten Einwand vorwegzunehmen: moderne Naturwissenschaft funktioniert. Sie hat wesentliche Erkenntnisse gebracht, die für die Selbstverständlichkeiten unseres Alltags unabdingbar sind. Unsere Smartphones und Laptops funktionieren, die Glühbirnen im Vorlesungssaal erhellen den sonst dunklen Raum und mathematische Verfahren tragen viel dazu bei, die von uns genutzte Lebenswelt zu erschaffen. Die modernen Naturwissenschaften erreichen dieses Ziel, indem sie die komplexen Zusammenhänge unserer Lebenswelt auf eine spezifische Art methodisch konzipieren. Das ist ihre große Stärke, die jedoch auch das Problem mit sich bringt, bestimmte Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren, obwohl die Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis in diese Zusammenhänge eingebunden sind.
Es ist hier nicht der Ort, um eine umfassende Darstellung und Kritik der modernen Naturwissenschaften vorzulegen. Wir möchten jedoch auf einige ausgewählte Aspekte eingehen, die viele der gängigen Konzepte auszeichnen. Dazu zählt bspw. von in sich geschlossenen Einheiten als „natürliche“ Voraussetzung der Naturbetrachtung auszugehen. Zwischen diesen Einheiten werden dann Kausalitäten beobachtet, d.h. es wird davon ausgegangen, dass sie durch erkennbare Ursache-Wirkungs-Beziehungen verknüpft sind. Diese werden dann als „Naturgesetze“ beschrieben und es wird davon ausgegangen, dass diese Gesetze immer auf die gleiche Weise wirken und die Welt sich restlos in der Beschreibung solcher Naturgesetze darstellen lässt. Die Gesamtheit unserer Lebenswelt wäre dann als Summe aller dieser einzelnen Beobachtungen und Beschreibungen zu fassen.
Das impliziert die oben bereits erwähnte Vorstellung, dass die Welt letztlich durch ihre Berechenbarkeit bestimmt ist. Dazu dienen weitere Grundannahmen wie die Vorstellung einer bestimmten Identität der Dinge (A=A), die durch alle Veränderung hindurch doch gleichbleiben.
Um das umsetzen zu können, unterstellt die moderne Wissenschaftstheorie seit Descartes eine strenge Trennung von Subjekt und Objekt: Die Wissenschaftlerin ist das handelnde Subjekt, dass sich die Welt um sie herum unterwirft und so zurichtet, wie sie es braucht. Das Experiment gilt dabei als zentraler Mechanismus, in dem durch die Wissenschaftlerin ein Zustand geschaffen wird, in dem die sonst nur theoretisch konstruierbaren Naturgesetze „bewiesen“ werden können. Der freie Fall z.B., ein vielen geläufiges Naturgesetz, lässt sich in seiner Reinform nur im luftleeren Raum beobachten und er existiert in der freien Wildbahn für gewöhnlich nicht.
Auf diese Weise gelingt es der Wissenschaft, wie bereits erwähnt, erstaunliche Erkenntnisse zu gewinnen. Das wiederum geht mit der irrigen Vorstellung einher, es ließe sich tatsächlich die ganze Welt auf diese Weise verstehen und alle Probleme, die in dieser Welt auftreten, ließen sich durch die korrekte Anwendung der Mechanismen moderner Naturbeherrschung lösen. Das ist jedoch − letztlich − eine männliche Allmachtsvorstellung.[8] Das wird bspw. daran deutlich, dass sich etwa im Kontext der Biodiversitätsforschung nicht alle relevanten ökologischen Zusammenhänge gleichermaßen innerhalb dieser streng formalen, empirisch messbaren Konstellation darstellen lassen. Wälder z.B. gehen nicht in ihrer Funktion als Rohstofflager und CO2-Senke auf, sondern sind zudem ein wichtiger Träger von Biodiversität, tragen zur Klimaregulation bei und stellen sich als ökologische Zusammenhänge dar, die in ihrer Komplexität nicht in wissenschaftlichen Datensätzen aufgehen.
Das alles spricht freilich nicht gegen die Anwendung und Nutzung moderner Naturwissenschaften. Aber es macht deutlich, dass es wichtig ist, ihre Funktionsweisen und Mechanismen zu verstehen und sich über ihre Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlich bewusst zu werden. Darüber hinaus wäre zu fragen, inwiefern andere, jenseits dieser verdinglichten Form der Weltbetrachtung stehende Konzepte, dazu beitragen können, unser systematisches Wissen über die Welt zu erweitern, ohne dabei in esoterische Spinnereien abzudriften.
Was passiert, wenn die Politik wissenschaftliche Erkenntnisse anwendet
Die Grenzen der modernen Naturwissenschaften werden immer dann deutlich, wenn von politischer Seite versucht wird, ihre Erkenntnisse in politische Programme zu übersetzen. Denn um die Erkenntnisse verstehbar und innerhalb kapitalistischer Verhältnisse handhabbar zu machen, muss die Politik alle Probleme auf abstrakte Maßzahlen reduzieren und allgemeine Lösungen formulieren, die sich dann in abstrakt-juristische Rechtssätze übertragen lassen. Die Probleme, die dabei entstehen, lassen sich am Beispiel der politischen Thematisierung der Klimakrise sehr eindrücklich vor Augen führen.
Erst als es gelang, mit CO2-Äquivalenten verschiedene Schadstoffe auf eine gemeinsame Maßeinheit zu bringen, wurde Klimapolitik überhaupt zu einem politisch adressierbaren Thema – nun gab es eine Zahl, auf die sich Maßnahmen beziehen konnten. So wurde die Reduktion von CO2-Emissionen zum zentralen Bezugspunkt. Unterschiedliche Schadstoffe lassen sich nun in einem Index zusammenfassen, politische Maßnahmen können auf ihre Auswirkungen in Bezug auf diese abstrakte Größe abgestimmt werden.
Diese Abstraktion hat jedoch zu einer Reihe absurder Entwicklungen geführt. So wurde jetzt begonnen, den Blick auf unterschiedliche Möglichkeiten der Energiegewinnung zu werfen und die Techniken zu bevorzugen, die bei der Produktion einen besonders niedrigen CO2-Ausstoß aufweisen. Und so gilt die Atomkraft für viele mittlerweile nicht mehr als eine Hochrisikotechnologie, die große Mengen Abfälle produziert, für die es keine Endlager gibt. Stattdessen wird sie als klimafreundliche Alternative zum Kohlekraftwerk angepriesen. Diese Sichtweise abstrahiert völlig von den spezifischen Nutzungsbedingungen der Atomkraft und betrachtet sie einzig unter der Perspektive einer abstrakt berechneten CO2-Reduktion.
Ein weiteres Beispiel ist die die Einführung einer CO2-Steuer. Diese sollte eigentlich Anreize für klimafreundliches Verhalten setzen. In der Praxis aber werden die Kosten vor allem auf die Verbraucher:innen abgewälzt. Menschen verbringen einen Großteil des Tages damit, in Unternehmen Produkte herzustellen, die für gewöhnlich ökologisch schädlich sind, und sollen dann nach Feierabend als Konsument:innen durch „kluge“ Kaufentscheidungen die Folgen ihrer kollektiven Produktion ausgleichen. Gleichzeitig zeigt sich, dass marktkonforme Preisbildung in Krisenzeiten nicht funktioniert: Sobald die wirtschaftliche Lage angespannt ist, wächst der Druck auf die Politik, die eigenen Unternehmen im globalen Wettbewerb nicht zu benachteiligen – und die letzten Reste klimapolitischer Regulierung werden wieder kassiert.
Dieser Druck kommt nicht zuletzt von den Wähler:innen selbst, die um ihre Arbeitsplätze und Einkommen fürchten. So entsteht eine paradoxe Allianz von Unternehmen und Beschäftigten gegen eine konsequente Klimapolitik – auch wenn viele Arbeiter:innen und bisweilen sogar Unternehmensführungen die Notwendigkeit ökologischer Veränderungen durchaus sehen. Auf diese Weise vereint der „Standort Deutschland“ die Arbeiter:innen und die Unternehmen in einer gemeinsamen Allianz gegen Klimagerechtigkeit. Die Einbindung nahezu aller Lebensbereiche in die globale Warenordnung zwingt Menschen dazu, im Zweifel gegen ihre eigenen Überzeugungen und für die Fortsetzung des kapitalistischen Wachstumskurses zu plädieren.
In der Summe zeigt sich: Die Abstraktion, die der kapitalistischen Warenproduktion zugrunde liegt, ist keine bloße Denkfigur, sondern ein gesellschaftlicher Zwang. Sie verhindert, dass die vorhandenen Möglichkeiten für ein gutes Leben und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen genutzt werden. Die Herausforderung besteht daher darin, diese Logik zu durchbrechen und gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in denen der konkrete Nutzen und die Bedürfnisse der Menschen wieder ins Zentrum rücken können.
Die wissenschaftliche Forschung an Universitäten und anderen Einrichtungen liefert zweifellos wertvolle Erkenntnisse über Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch und Schadstoffausstoß. Dennoch bleibt ihr tatsächlicher Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen erstaunlich gering. Ein Grund dafür liegt darin, dass sich Forschung oft auf einzelne Phänomene konzentriert, deren Potenziale im Rahmen kapitalistischer Verwertungslogik kaum wirksam werden können. Besonders deutlich wird dies, wenn Naturwissenschaftler:innen neue technische Lösungen präsentieren und auf deren praktische Umsetzbarkeit verweisen – ohne zu berücksichtigen, dass es im Kapitalismus nicht auf die stofflichen Möglichkeiten ankommt, sondern auf ihre Marktfähigkeit. So bleibt das Potenzial vieler Entdeckungen ungenutzt, weil die gesellschaftlichen Strukturen ihrer breiten Anwendung im Wege stehen.
Gerade in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften werden dann regelmäßig Marktmechanismen als Lösungsweg propagiert – etwa durch die Schaffung von Märkten für sogenannte Ökosystemdienstleistungen. Der Grundgedanke ist auch hier ganz einfach: Wenn Emissionen negativ in die Bilanz eingehen, sollen Maßnahmen, die CO2 binden oder vermeiden, positiv angerechnet werden. Wer also Bäume anpflanzt oder eine Technologie zur Filterung von Schadstoffen aus dem Fabrikschlot entwickelt, trägt etwas zur Senkung des Netto-CO2-Ausstoßes bei.
Einmal verrechnet, ist es dann auch nicht mehr wirklich relevant, ob die entsprechenden Maßnahmen tatsächlich den Einspareffekt haben, der ihnen beigemessen wurde. Dass die neu gepflanzten Bäume in den ersten 30 Jahren eine negative CO2-Bilanz aufweisen, spielt dann ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob sie in 30 Jahren noch immer an ihrem Platz stehen oder vielleicht einem Unwetter oder dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen sind. Wichtig ist, dass die Vorteile sich schon heute einpreisen und zur Herstellung von markttauglichen Finanzmarktprodukten beitragen.
Ein weiteres aktuelles Beispiel für diese Praxis ist der Hype um Carbon Capture and Storage (CCS), also die Abscheidung und Speicherung von CO2 direkt an der Quelle. Ob diese Technologie jemals im großen Maßstab sicher und dauerhaft einsetzbar sein wird, ist völlig offen. Dennoch werden die prognostizierten Einsparungen bereits heute in politische und wirtschaftliche Planungen einbezogen – und schaffen so neue Spielräume, um weiterhin reale Emissionen zu verursachen und die natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden. Hier zeigt sich, wie eng die kapitalistische Logik der Profitmaximierung mit der Praxis des „Anzapfens der Zukunft“ verflochten ist, die wir bereits im ersten Teil dieser Broschüre beschrieben haben. In diesem Fall schafft die Hoffnung auf zukünftige technische Lösungen die Legitimation, politische und wirtschaftliche Prozesse nicht grundlegend verändern zu müssen.
Es wird deutlich, dass wir von der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wenig für eine Lösung der Klimakrise erwarten können. Um für diese Herausforderung eine adäquate Antwort formulieren zu können, müssen wir die gesellschaftlichen Mechanismen und Dynamiken, die einer emanzipatorischen Transformation des Mensch-Natur-Verhältnisses im Wege stehen, angehen. Um das tun zu können, müssen wir sie jedoch zunächst verstehen. Dazu möchte diese Broschüre einen Beitrag leisten.
[1] Genauere Zahlen zu diesem Komplex finden sich im Global Resources Outlook von 2019 unter https://wedocs.unep.org/handle/20.500.11822/27519
[2] Weitere Statistiken zu diesem Komplex finden sich auf der Seite des Global Carbon Project unter https://www.globalcarbonproject.org/
[3] Autofahrer:innen bemerken das am sogenannten „Windschutzscheiben-Phänomen“: Windschutzscheiben sind heute nach längeren Fahrten deutlich weniger mit Insekten bedeckt als noch vor 20 Jahren. Viele Gartenbesitzer:innen klagen zudem über Bestäubungsprobleme im eigenen Garten und immer wieder bemerken aufmerksame Beobachter:innen, sie würden weniger Vogelgesang wahrnehmen. Kein Wunder: Allein in den letzten 10 Jahren wurde ein Rückgang der Vögel pro Garten um etwa 20 Prozent festgestellt.
[4] Vgl. „Kapitalismus als Wissensgesellschaft“ in diesem Reader.
[5] Vgl. „Kapitalismus als Wissensgesellschaft“ in diesem Reader.
[6] Zur Kritik der „geplanten Verschwendung“ vgl. Christian Kreiß: Geplanter Verschleiß. Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt – und wie wir uns dagegen wehren können. Berlin: Europa Verlag 2014. Zu dem im Text angesprochenen Phänomen vgl. vor allem S. 51f.
[7] Vgl. „Wem gehört die Vernunft?“ in diesem Reader.
[8] Vgl. „Wem gehört die Vernunft?“ in diesem Reader.