Wem gehört die Vernunft?
Wissenschaft, patriarchale Arbeitsteilung und die Konstruktion von Geschlecht
Der Beginn der modernen Wissenschaft ist eng mit der Epoche der Aufklärung verbunden. Diese brachte den europäischen Gesellschaften nicht nur Wohlstand und Wissen, sondern auch die Idee einer Gleichheit aller Menschen. So hat sich diese Idee zumindest in das moderne Selbstverständnis der aufgeklärten Europäer:innen eingeprägt. Doch wie verhält es sich tatsächlich mit der Gleichheit in der Aufklärung? Ein genauerer Blick auf das Geschlechterverhältnis bringt hier erschreckendes zu Tage.
Der Philosoph Immanuel Kant etwa befand seinerzeit, „der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers“ sei allzu menschlich: „Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden.“ Ähnlich äußerte sich Georg Christoph Lichtenberg, dessen Statue heute im Zentrum der Universitätsstadt Göttingen zu finden ist: „Die Natur hat die Frauenzimmer so geschaffen, dass sie nicht nach Prinzipien, sondern nach Empfindungen handeln sollen.“
Sowohl Kant als auch Lichtenberg – und mit ihnen der Großteil der Aufklärer – verstanden Männlichkeit und Weiblichkeit als zwei streng getrennte, natürliche Wesenheiten. Demnach verkörpert der Mann die wissenschaftliche Rationalität, das „Vernünfteln“, und widmet sich der Aufgabe, die gesellschaftliche Öffentlichkeit zu beherrschen und die Zivilisation über die Welt zu bringen. Die Frau hingegen, so die allgemein verbreitete Auffassung, stehe von Natur aus der Natur nah, sei besonders empfänglich für Gefühle und deshalb für „Küche, Kinder und Kirche“ zuständig.
Würden Kant und seine Zeitgenossen heute darauf angesprochen, wie sie von der postulierten Gleichheit aller Menschen zur expliziten Abwertung der Weiblichkeit gelangen konnten, hätten sie diesen Vorwurf entschieden zurückgewiesen. Für sie sollte es einzig darum gehen, die spezielle und von der Natur zugeschriebene Rolle von Männern und Frauen zu beschreiben – das sei aber keine Abwertung, sondern gerade die Grundlage, die eine gerechte und verständige Beurteilung der Geschlechter ermögliche.
Kapitalismus und das moderne Patriarchat
Die feministische Gesellschaftskritik des späten 20. Jahrhunderts konnte überzeugend aufzeigen, dass die gängigen Vorstellungen von „den Männern“ und „den Frauen“ keineswegs uralte, unveränderliche Traditionsmuster sind.[1] Vielmehr hat die historische Durchsetzung der modernen Gesellschaft auch zu einer grundlegenden Transformation des ohnehin schon patriarchalen Geschlechterverhältnisses geführt. Zwar blieb die Gesellschaft patriarchal strukturiert, doch die Art und Weise, wie Hierarchisierung, Konstruktion und Abwertung von Geschlechtern vollzogen wurden, veränderte sich grundlegend.
Wie kam es dazu? Mit der Etablierung des Kapitalismus entstand eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre, in der Menschen als isolierte, voneinander getrennte Individuen ihre gesellschaftliche Existenz primär durch ihre Arbeit herstellen: die Ökonomie. Diese Ökonomie brachte zugleich ein neues Verständnis von Zeit mit sich: Zeit wurde nicht mehr vor allem durch kulturelle Rhythmen bestimmt, sondern als abstrakte und messbare Größe in Tagen, Stunden und Minuten aufgefasst.
Diese „Ökonomie“ basiert in ihrem Kern auf dem Prinzip der Zeiteinsparung: Wer es schafft, Produkte in kürzerer Zeit herzustellen, erlangt einen wirtschaftlichen Vorteil. Allerdings ist offensichtlich, dass viele Bereiche gesellschaftlichen Lebens sich nicht sinnvoll nach dem Zeiteinsparprinzip organisieren lassen. Care-Tätigkeiten wie Kindererziehung können nicht mit der Stoppuhr in der Hand ausgeführt werden. Hier gilt vielmehr ein anderes Zeitverständnis, nämlich das der Zeitverausgabung.
Die gesellschaftliche Durchsetzung dieser eigenständigen ökonomischen Zeitsparlogik führte dazu, dass solche Tätigkeiten, die zwar gesellschaftlich notwendig, innerhalb dieser Logik aber nicht einfach darstellbar waren, daher anderweitig organisiert werden mussten.
Diese Herausforderung konnte dadurch bewältigt werden, dass diese Tätigkeiten einer besonderen Gruppe von Menschen als vermeintlicher „Liebesdienst“ aufgebürdet wurden; Frauen wurden nun als die Gruppe von Menschen angesehen, die – mit Rückgriff auf biologistische Argumente – zu diesen Tätigkeiten berufen sein sollten. Die modernen Geschlechterstereotype, die sich zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert etablierten, ermöglichten es, eine zur kapitalistischen Ökonomie passgenau konstruierte Sphäre häuslicher Weiblichkeit zu schaffen, in der die von Natur aus als fürsorglich geltende Frau ihren „Liebesdienst“ an Mann und Kind verrichtet.[2]
Identität, Körper, Natur
Die Transformation der Geschlechterverhältnisse, die mit der Entstehung der modernen, warenproduzierenden Gesellschaft einhergeht, verwandelt das vormoderne Patriarchat in ein modernes „warenproduzierendes Patriarchat“ (Roswitha Scholz). Dabei gehen Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Hand in Hand mit grundsätzlichen Verschiebungen in den ideologischen Konstruktionen und den damit verbundenen Vorstellungen von Identität.
Zentral für diesen Prozess ist die Durchsetzung neuer „Denkformen“. Menschen nehmen sich nun als „Subjekte“ wahr, die als solche eine ihnen untergeordnete Welt von „Objekten“ beherrschen. In der Frühphase der modernen bürgerlichen Gesellschaft gehörten jedoch nur bestimmte Menschen in diese Kategorie der Subjekte: weiße, besitzende Männer, die stets als heterosexuell konstruiert wurden. Nur sie galten als „vernunftbegabt“ und damit als echte Subjekte. Ihre von Gott oder der Natur (je nach damaliger Vorstellung) gegebene Aufgabe war es, die sie umgebende Objektwelt zu beherrschen – dazu zählte nicht nur die natürliche Umwelt[3], sondern auch sämtliche nicht-weißen Menschen.
Viele emanzipatorische soziale Bewegungen der letzten Jahrhunderte können als Kämpfe um die Anerkennung des Subjektstatus verstanden werden. Dies gilt nicht nur für die Arbeiter:innenbewegung, sondern ebenso für das Black Movement, die Frauenbewegung, die Behindertenbewegung sowie die vielfältigen queeren Kämpfe seit dem 19. Jahrhundert.
Die neue Form der modernen Wissenschaft verfolgte das Ziel, das vormoderne, mythische Naturverständnis zu überwinden und sich ganz auf die äußere, empirische Beobachtung zu stützen. Dies verband sich mit der Vorstellung, dass menschliches Leben im Wesentlichen ein natürlicher Prozess sei, der auf Arterhaltung und „Reproduktion“ ausgerichtet sei. Damit sollte der als natürlich unterstellte „Volkskörper“ des modernen, kapitalistischen Staates dauerhaft als „Nation“ erhalten werden.[4]
Infolgedessen wurden geschlechtliche Eigenschaften und Begehren direkt in die Körper von zwei Geschlechtern eingeschrieben, die nun als grundlegend unterscheidbar galten: aus Menschen mit männlich oder weiblich wahrgenommenen Rollenmuster entstanden die Kategorien „Männer“ und „Frauen“.[5] Diese wurden mit charakterlichen Eigenschaften versehen, die direkt auf die Arterhaltung abzielten: Männer galten als zuständig für die Unterwerfung der äußeren Natur,[6] während Frauen als der Natur nahestehend vorgestellt wurden und deshalb die emotionale Absicherung der so entstehenden Kleinfamilie übernehmen sollten.
Die im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft aufkommenden „materialistischen“ Theorien sind Teil einer Erzählung, die Menschen anhand körperlicher Merkmale in gesellschaftlich vorausgesetzte Kategorien einteilt.[7] Die männlich konnotierte Wissenschaft dieser Zeit verfolgte dabei stets das Ziel, zu definieren, was „richtige Frauen“ seien und wie sie sich zu verhalten hätten.
Die Abwehr gegen queere Praxen und theoretische Konzepte, die darauf abzielen, die als natürlich vorausgesetzte Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen, ist in dieser Konstellation begründet. Denn die als „natürlich“ angenommene Zweiteilung der Geschlechter bildet die Grundlage für ihre gesellschaftliche Hierarchisierung. Vor diesem Hintergrund ließen sich innerfeministische Auseinandersetzungen – etwa zwischen differenz-, gleichheits- und queer-feministischen Ansätzen – kritisch neu formulieren.
Die männliche Wissenschaft
Wie bereits eingangs angedeutet, spiegeln sich moderne Geschlechterstereotype auch in der Wissenschaftstradition der Aufklärung wider. Das Problem reicht jedoch weit darüber hinaus: Die naturwissenschaftlichen Beschreibungen und die gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen sind historisch häufig eng miteinander verwoben. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich an zwei zentralen Persönlichkeiten der modernen Naturwissenschaft: Carl von Linné und Charles Darwin.
Carl von Linné, ehemaliger Hofarzt am schwedischen Königshof, legte mit seinem Werk Systema Naturae die Grundlage für die bis heute gängigen Klassifikationen der Lebewesen. In diesem Werk unterschied er Tiere, Pflanzen und Mineralien anhand der Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. Dabei machte er die Fortpflanzung zum zentralen Kriterium der Einteilung. Interessanterweise unterteilte er die Tiere in sechs Klassen, wobei er für die Säugetiere eine Bezeichnung verwendete, die nur die Hälfte der jeweiligen Tiere umfasste: Nicht alle Säugetiere säugen ihre Jungen.[8] Diese Unterscheidung war jedoch kein Zufall. Linné möchte die Tiere aufgrund ihrer „natürlichen Eigenschaften“ klassifizieren und identifiziert das „Natürliche“ mit dem Weiblichen. Insofern überträgt er seine patriarchalen Vorstellungen von der menschlichen Gesellschaft auf das Tierreich.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Charles Darwin. Während seiner Weltumsegelung mit der Beagle trug Darwin die Vorstellungen des viktorianischen Zeitalters im Kopf – eine Zeit, geprägt von rigiden Geschlechterrollen und einem stark konkurrenzbasierten Gesellschaftssystem. Seine Evolutionstheorie entwickelte er vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Vorstellungen. Dabei übertrug er zunächst die Idee einer evolutionären Entwicklung durch Konkurrenz, die er bei dem wirtschaftspolitischen Klassiker Adam Smith gefunden hatte, auf die Natur. So wurde das Survival of the fittest zum Ausgangspunkt seiner Naturphilosophie und konnte von hier den Weg zurück in die Gesellschaftstheorie finden. Besonders durch Herbert Spencer wurde diese Vorstellung auf die Gesellschaft des 19. Jhds. übertragen und populär gemacht – als „Sozialdarwinismus“.
Auch Darwins Geschlechtervorstellungen sind von den gesellschaftlichen Normen des viktorianischen Englands geprägt. Die männlichen Tiere werden stets als aktiv und dominant dargestellt, die weiblichen hingegen als fürsorglich, passiv und untergeordnet. Auch hier blickte Darwin durch den gesellschaftlich geprägten Filter seiner Zeit auf sein empirisches Material und sah am Ende genau das, was seiner gesellschaftlichen Erwartung entsprach.
Gewalt und Phantombesitz
Mit der oben beschriebenen modernen Subjekt-Objekt-Spaltung und deren geschlechtlicher Besetzung sind innergesellschaftliche Herrschaftsmechanismen verbunden. Die traditionell als selbstverständlich angenommene Subjektposition des Mannes impliziert einen Herrschaftsanspruch gegenüber der Frau, die in der Ideologie häufig als durch die Natur bestimmt und damit als „Objekt“ angesehen wird. Diese Haltung spiegelte sich lange Zeit in rechtlicher Abwertung wider, infolge derer die Möglichkeiten von Frauen, sich eigenständig als selbstbestimmte Subjekte im gesellschaftlichen Raum zu bewegen, stark eingeschränkt waren. So galt in der Ehe zunächst das Wort des Mannes, und die Frau hatte sich zusammen mit ihrem Körper seinem Willen zu unterwerfen. Dass häusliche Gewalt in Deutschland erst 1997 unter Strafe gestellt wurde, verdeutlicht die Selbstverständlichkeit dieser patriarchalen Verfügungsgewalt.
Heute sind diese rechtlichen Ungleichheiten weitgehend beseitigt. Dennoch ist der Anspruch vieler Männer, über Frauen, ihre Körper und ihr Wohlwollen zu verfügen, keineswegs verschwunden. Im Gegenteil: Besonders in einer Welt, die sich ständig umstrukturiert, in der einst selbstverständliche Privilegien verloren gehen und der eigene gesellschaftliche Status als bedroht empfunden wird, entwickeln viele Männer eine Haltung, mit der sie an die verschwundenen, aber nostalgisch verklärten Vorrechte anknüpfen wollen. Für die Bewegung der Incels ist es zentral, die Verfügbarkeit von Frauenkörpern wiederherzustellen. Auch die Kritik an Versuchen, gesetzliche Regeln zum Geschlechtseintrag zu reformieren, dient nicht zuletzt der Aufrechterhaltung der Hoheit darüber, wie eine „richtige“ Frau zu sein hat.
Die Philosophin Eva von Redecker bezeichnet dieses Phänomen als „Phantombesitz“: Zwar existiert keine gesetzliche Grundlage für den männlichen Anspruch, über weibliche Körper zu verfügen. Doch sozialpsychologisch wird dieser Anspruch von immer mehr Menschen als gegeben angenommen oder „gefühlt“ und wird dann politisch thematisiert und eingefordert. Im Kern dreht sich diese Problematik um die Frage, wer als vereinzeltes, handlungsfähiges „Subjekt“ anerkannt wird – und wer nicht.[9]
Geschlecht, Begehren und Identität
Mit der zunehmenden Vereinheitlichung von Geschlecht und Körperlichkeit, wie wir sie bereits angesprochen haben, richtet sich die herrschende Vorstellung von Geschlechtlichkeit zunehmend auf Reproduktionsfunktion und Erhalt der Gesellschaft oder „Nation“[10] aus. Die „Nation“ wird damit zum zentralen Bezugspunkt aller Debatten um Geschlecht, Sexualität und Begehren.
Dementsprechend ist es kein Wunder, dass mit der Durchsetzung dieser Geschlechterstereotype auch die Entstehung sexueller Identitäten verbunden ist. Sie sollen helfen, die amourösen Beziehungen zwischen Menschen auf ihre potentielle Fortpflanzungsfunktion zu reduzieren. Menschen werden nun nicht mehr durch ihre jeweiligen Handlungen definiert – also beispielsweise manchmal Sex mit Männern oder Frauen zu haben – sondern über eine Identität, die wiederrum mit der ihnen zugeschriebenen Begehrensstruktur verbundenen ist. Wir haben dann nicht einfach „Sex“, sondern sind beispielsweise heterosexuell oder homosexuell. Eine Vorstellung solcher Identitätsformen finden sich in vormodernen Gesellschaften für gewöhnlich nicht.
Zugleich wandern die vermeintlichen Eigenschaften, durch welche Geschlechter bestimmt werden, in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend „in die Körper“ der jeweiligen Personen. Es gilt dann als „natürlich“, dass Männer und Frauen auf bestimmte Arten leben, lieben oder sich verhalten.
Traditionelle Befreiungskämpfe verstehen sich heute häufig als Kämpfe um die Anerkennung bestimmter, bislang abgewerteter Identitäten. Deren Erfolg bei der gesellschaftlichen Anerkennung führt jedoch zwangsläufig dazu, dass immer neue Lebensweisen, die in der nun etablierten Erzählung nicht berücksichtigt sind, ebenfalls den Anspruch erheben, als eigenständige „Identität“ anerkannt zu werden. Auf diese Weise stellt die postmoderne Identitätspolitik eine verständliche, aber auch zugleich begrenzte Antwort auf die gesellschaftliche Norm einer verpflichtenden Identität dar.
Wie soziale Kämpfe jenseits solcher Normierungen – und dennoch unter Berücksichtigung realer Abwertungserfahrungen – geführt werden können, ist eine wichtige gesellschaftspolitische Fragestellung, die einer vertieften und ernsthaften Diskussion bedarf.
Geschlechterverhältnis in der Postmoderne
Die Geschlechterbeziehungen in der aktuellen politischen Auseinandersetzung sind von vielfältigen und oft widersprüchlichen Ansprüchen geprägt. Einerseits hat eine weitgehende Integration und Anerkennung von Frauen in die bürgerlich-kapitalistische Warengesellschaft stattgefunden. Das Ausmaß dieser Integration und ihre Bedeutung für das Selbstwertgefühl sowie die Lebensperspektiven von Frauen sollten trotz der noch bestehenden Herausforderungen nicht unterschätzt werden. Darüber hinaus gab es insbesondere seit den frühen 2000er-Jahren eine Erweiterung der Teilhabemöglichkeiten für nicht-heterosexuelle Sexualitätsformen und nicht-binäre Identitäten.[11] Auch diese Fortschritte sind von großer Relevanz und darf nicht vernachlässigt werden.
Andererseits stehen dieser relativen Verbesserung in einer repressiven Gesamtgesellschaft zunehmende Angriffe von autoritären Bewegungen gegenüber. Auch wenn eine vollständige Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht ist, werden die bisherigen Verschiebungen vor allem von Teilen einer sozial und ökonomisch zunehmend prekarisierten Männlichkeit als Bedrohung und Angriff auf vermeintlich erhaltenswerte „Selbstverständlichkeiten“ empfunden. Die Folgen dieser Krisenreaktion lassen sich global beobachten und schlagen sich nicht zuletzt in einer nicht abreißen wollenden Welle an Femiziden nieder.
Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung werden dabei nicht als Mittel zur allgemeinen Erweiterung sozialer Möglichkeiten verstanden. Stattdessen werden sie als eine Art Eigentumstitel betrachtet und gegeneinander aufgerechnet. Die Fähigkeit, über weiblich markierte Körper verfügen zu können, ist so tief in der Selbstwahrnehmung moderner Männlichkeit verankert, dass sie reaktiviert wird, sobald die eigene gesellschaftliche Position auf einer anderen Ebene – etwa hinsichtlich sozialer Aufstiegschancen – als bedroht wahrgenommen wird.
Für soziale Bewegungen stellt sich daher die doppelte Herausforderung, zum einen die bisher erreichten Errungenschaften zu bewahren und auszubauen. Zum anderen aber auch die starren identitären Zuschreibungen, sowie die damit verbundenen Ungleichheiten hinsichtlich Arbeitsteilung und Erfahrungen sexualisierter Gewalt, kritisch zu reflektieren.
Darüber hinaus gilt es für emanzipatorische Praxen, die gängige Abwertung bislang abgespaltener Tätigkeitsbereiche zu überwinden. Sowohl postkapitalistische Praxis als auch postkapitalistische Utopie müssen die bislang abgewerteten, aber für das gesellschaftliche Leben essenziellen Bereiche ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken.
[1] Vgl. einführend Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt 1951; sowie Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben in: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Klett 1976
[2] Bei diesen Zuschreibungspraxen handelt es sich um gesellschaftliche Zuordnungen, mit denen sich die Individuen nicht zwangsläufig identisch fühlen müssen. Trans-, Inter- und Non-binäre Personen können auf gesellschaftlicher Ebene als „Frau“ behandelt und ausgebeutet werden, auch wenn sie sich der Kategorie selbst nicht zuordnen.
[3] Vgl. „Klima-Crash im Elfenbeinturm“ in diesem Reader.
[4] Vgl. „Die globale autoritäre Formierung“ in diesem Reader.
[5] Die patriarchalen Strukturen in vormodernen Gesellschaften organisierten sich über Tätigkeitsbereiche und kulturell-normative Ansprüche. Sie verlangten vor allem das richtige Verhalten von Menschen, verdichteten deren Existenzweise jedoch nicht zu einer „Essenz“ oder „Identität“, d.h. zu etwas mit den Menschen und ihrer körperlichen Existenz Verbundenem.
[6] „Unterwerfung der Natur“ meint hier den gesamten Prozess der Naturbeherrschung, wie wir ihn heute kennen: Die Bearbeitung von Naturstoffen und deren Bereitstellung für den gesellschaftlichen Konsumtionsprozess.
[7] Der Materialismus etwa von La Mettrie beruht im Wesentlichen darauf, die mechanisch-naturwissenschaftlichen Notwendigkeiten, die sich aus der Körperlichkeit von Dingen und Lebewesen ergeben, in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung zur rücken. In diesem Sinne beruht die Tradition des Materialismus auf einer im schlechtesten Sinne wissenschaftlichen Verdinglichungstheorie (in der alles auf seinen Charakter als Ding bzw. Körper reduziert wird).
[8] Die meisten der sog. „Männchen“ einer Tierart tun dies beispielsweise nicht.
[9] Vgl. Eva von Redecker: Revolutionen für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Fischer 2020, S. 32ff.
[10] Vgl. „Die globale autoritäre Formierung“ in diesem Reader
[11] Auf rechtlicher Ebene seien nur beispielhaft das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft oder das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag genannt. Darüber hinaus verweist z.B. die Ausweitung der Christopher Streets Days über einige Metropolen hinaus, auf eine Erweiterung kultureller Teilhabemöglichkeiten.