Die globale autoritäre Formierung
Deregulierung, sozialer Kahlschlag und die wandelnde Rolle des Staates
Die Nation, eine „natürliche“ Weise des Menschseins?
Um den globalen autoritären Trend zu analysieren ist es wichtig zu verstehen, dass die zentralen Argumente der Neuen Rechten auf gesellschaftliche Institutionen abzielen, die erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus entstanden sind.
Das gilt zunächst für die Vorstellung eines freien, mit Eigentumsrechten ausgestatteten Individuums. Historisch gesehen gibt es diese Idee erst, seitdem traditionelle Bindungen der Menschen – etwa an Familie oder Gemeinde – systematisch aufgelöst wurden. Erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Warengesellschaft werden Menschen als „frei“ und „gleich“ betrachtet. Und auch das Konzept der nationalen Zugehörigkeit entsteht erst in dieser Epoche. Um eine umfassende, auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft zu ermöglichen, bedarf es eines Rahmens, der diese neuen Beziehungsformen absichert. Dieser Rahmen wird ganz konkret durch den Staat geschaffen: Durch Gesetze, Polizei und Verwaltung sorgt er dafür, dass die nun vereinzelten Individuen gleichberechtigte Rechtsbeziehungen miteinander eingehen können.
Doch dabei bleibt es nicht. Es reicht nicht aus, die Menschen nur objektiv – also von außen betrachtet – zur gesellschaftlichen Teilhabe zu zwingen. Sie müssen sich auch subjektiv als freie und vor allem als gleichwertige Mitglieder einer Gemeinschaft erleben. Diese Funktion erfüllt die Nation als gedachtes Gemeinwesen: Die Idee, dass alle Deutschen einander insofern gleich seien, als dass sie Deutsche sind. Zur Begründung dieser angeblichen Gleichheit werden dann Merkmale wie Religion, Kultur oder Sprache herangezogen. Ob zum Beispiel Menschen mit verschiedenen Dialekten tatsächlich durch eine gemeinsame Sprache verbunden sind, ist dabei ziemlich fraglich. Und warum sich eine bayerische Landwirtin enger mit einem friesischen Fischer als mit ihrem Kollegen auf einer benachbarten österreichischen Alm verbunden fühlen sollte, lässt sich nicht aus „natürlichen“ Verhältnissen ableiten. Es handelt sich vielmehr um eine historische Konstruktion, die jedoch im gesellschaftlichen Alltag außerordentlich wirksam geworden ist.
Sowohl die Idee des vereinzelten Individuums als auch die der Nation entstehen also mit der kapitalistischen Gesellschaft. Diese ist jedoch kein statisches System, sondern wird durch eine innere Dynamik und ständige Veränderungen geprägt.[1] Aus der Perspektive der nun auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen, wird diese Dynamik oft als bedrohlich empfunden – als Gefahr, für die irgendjemand verantwortlich sein muss. Die Nation und die Familie dienen in dieser Gemengelage als scheinbar sichere Rückzugsorte, die vor den Unsicherheiten des Marktes und der kapitalistischen Ökonomie schützen sollen. Ökonomische Mechanismen werden dabei personifiziert. Das bedeutet: Komplexe gesellschaftliche Prozesse werden auf ganz bestimmte „Schuldige“ zurückgeführt.
Damit einher geht ein theoretischer Kunstgriff, den wir uns genauer ansehen sollten. Die gesellschaftliche Vermittlung erfolgt im Kapitalismus vor allem über die Arbeit: Menschen produzieren Dinge und treten über den Austausch ihrer Arbeitsprodukte miteinander in Beziehung.[2] Dieser Austausch erfolgt über eine zu diesem Zweck ausgesonderte Ware, das Geld. In der nationalistischen Ideologie wird dieser Zusammenhang auseinandergelegt: Arbeit erscheint als natürlicher Prozess der Bearbeitung von Natur, während das Geld als notwendiges, aber fremdes Mittel für den Austausch dieser Produkte gilt und selbst mit „dem Ökonomischen“ gleichgesetzt wird. Daraus ergibt sich eine Gegenüberstellung: Auf der einen Seite steht die Nation als Gemeinschaft der fleißig arbeitenden, aber ständig betrogenen Menschen. Auf der anderen Seite wird eine Gruppe imaginiert, die angeblich das Geld kontrolliert und so für das soziale Leid verantwortlich gemacht wird. Die eigentlichen gesellschaftlichen Prozesse, die dieses Leiden hervorbringen, treten dabei in den Hintergrund.[3]
Besonders deutlich zeigt sich diese personalisierende Denkweise im Antisemitismus: Hier wird das Judentum mit dem Geld identifiziert und als das „absolut Böse“ dargestellt, das angeblich „hinter“ den kapitalistischen Dynamiken stehen soll. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich so eine besonders mächtige Verschwörungstheorie, deren absurde Logik letztlich darauf abzielt, das „absolut Böse“ – und damit die Jüdinnen:Juden – zu vernichten.
Demokratie und Staat im Zeitalter der Massenarbeit
Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaft entsteht eine ökonomische Situation, in der die Arbeitskraft zur Basisware des Systems wird. Die Verkäufer:innen dieser Ware, also die Arbeiter:innen, stehen im Zentrum der gesellschaftlichen Prozesse. Sie verkaufen ihre Arbeitskraft an kapitalistische Unternehmen, die das Eigentum an den Produktionsmitteln besitzen. Die Gewinne, die diese Unternehmen erzielen, basieren auf der Ausbeutung dieser Arbeitskraft.[4] Diese Gewinne fließen dann als Investitionen vor allem wieder in den kapitalistischen Akkumulationsprozess: In neue, bessere Maschinen, mit denen die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben.
Im Zeitraum vom späten 19. bis zum zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts beruht die Kapitalakkumulation also auf der massenhaften Anwendung einer Ware, die verhältnismäßig demokratisch in der Gesellschaft verteilt ist. Allerdings waren die Verkäufer:innen dieser Ware zunächst noch nicht vollständig als gleichberechtigte Vertragspartner:innen anerkannt. Ohne technischen und sozialen Arbeitsschutz, ohne Sozialversicherungen und dergleichen, war ihre Ware (die Arbeitskraft) stets in Gefahr, entwertet zu werden (durch Arbeitsunfälle, Krankheit etc.). Daher waren die Kämpfe der Arbeiter:innenbewegung darauf ausgerichtet, als kollektive Eigentümer:innen dieser zentralen Ware – der Arbeitskraft – anerkannt zu werden.
Mit der weitgehenden gesellschaftlichen Anerkennung der Arbeitskraft entsteht die Grundlage für die Durchsetzung demokratischer gesellschaftlicher Prozesse. Die Politik übernimmt zunehmend die Aufgabe, die Interessen aller anerkannten Warenbesitzer:innen gleichermaßen zu berücksichtigen. So wurden nicht nur die Verwertungsinteressen des Kapitals, sondern auch die Interessen der Arbeiter:innen zum legitimen Gegenstand gesellschaftlicher Regelungen – etwa durch Tarifverträge, Arbeitsschutzgesetze und Sozialversicherungssysteme.
Auch auf rechtlicher Ebene drückt sich diese Entwicklung aus: Demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien setzen sich durch. In einer Gesellschaft, in der die zentrale Ware Arbeitskraft demokratisch verteilt ist, galt es als selbstverständlich, dass deren Eigentümer:innen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Entscheidungsprozess teilhaben – etwa durch Wahlen.
Damit einher geht zudem eine zunehmende Übertragung der öffentlichen Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. Die lag durchaus im Interesse der unterschiedlichen Interessengruppen. Denn die öffentliche Organisation eines Bildungssystems sowie der Bau von Straßen und Elektrizitätsleitungen, sorgte für einen günstigen und verlässlichen Zugang zu den zeitgenössischen Schlüsselgütern nicht nur für die Arbeiter:innen, sondern auch für die kapitalistischen Unternehmen. Das gilt nicht zuletzt für die Ware Arbeitskraft, deren Ausbildung in staatlich finanzierten Schulen organisiert wurde. Darüber hinaus bewirkten die niedrigen Fixkosten für Strom, Wasser und Telefon, dass auch die Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innen – und somit die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft – niedrig blieben. Am Ende war auf diese Weise allen Seiten gedient und die fordistische Arbeitsgesellschaft konnte auch ideologisch erblühen, weil alle Warenverkäufer:innen letztlich der gleichen Kirche angehörten (nämlich der Kirche der Arbeit).
In dieser Phase kam es zu einer zeitweiligen Verschränkung von kapitalistischer Wirtschaftsweise, repräsentativer Demokratie und Rechtsstaat. Sozialwissenschaftler:innen bezeichnen diese Epoche daher oftmals als das „sozialdemokratische Zeitalter“. Dorthin zurückzukommen ist der gemeinsame Nenner aller autoritären politischen Konzepte der Gegenwart, nicht nur in Deutschland.
Wissen und der Beginn der Krise der Demokratie
Die bislang beschriebene Situation wird jedoch durch die „mikroelektronische Revolution“ infrage gestellt. Enorme Produktivitätssprünge, die durch Computer- und Robotertechnik möglich werden, verdrängen die Ware Arbeitskraft nicht nur aus ihrer zentralen Rolle in der Fabrik, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. Das liegt an zwei eng miteinander verknüpften Prozessen, die wir zum besseren Verständnis der polit-ökonomischen Hintergründe der aktuellen Krise der Demokratie, kurz darstellen möchten.[5]
Im 19. Jahrhundert drehte sich der kapitalistische Produktionsprozess noch stark um die Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft. Das benötigte Wissen für die Produktion war vor allem in den Köpfen und Körpern der Arbeiter:innen verankert. Jede Steigerung der Produktivität und jeder neue Einsatz von Maschinen bedeutete, dass ein Teil dieses Wissens in die materiellen Produktionsbedingungen eingebaut wurde. Dadurch verlor das Wissen in den Köpfen der Menschen im Vergleich zu dem Wissen, das in riesigen Maschinenkomplexen vergegenständlicht ist, an Bedeutung. Dies machte die Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft zunehmend austauschbarer und führte zu einem Verlust ihrer Produktionsmacht.
Gesamtgesellschaftlich hat diese Entwicklung zur Folge, dass sich das Verhältnis zwischen Prozess- und Produktinnovationen verschiebt. Was ist damit gemeint? Prozessinnovationen – also technologische Neuerungen, die im Produktionsprozess eingesetzt werden – reduzieren die insgesamt notwendige Arbeitszeit. Gleichzeitig bringen Produktinnovationen neue Waren hervor, so dass neue Produktionsfelder die an anderer Stelle eingesparte Arbeit gesamtgesellschaftlich wieder ausgleichen konnten. Dass für die Produktion des einzelnen Produktes immer weniger Arbeit anfiel, spielte für die Arbeitsgesellschaft so lange keine Rolle, wie die steigende Anzahl der Produkte insgesamt eine Erweiterung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zur Folge hatte. So konnte die Arbeitsgesellschaft bisher stetig wachsen.
Mit der mikroelektronischen Revolution endet diese Dynamik jedoch abrupt. Nun erhöhte sich die Produktivität so immens, dass das so geschaffene Einsparpotenzial der Arbeit im Produktionsprozess so groß wurde, dass es für Unternehmen nicht mehr lohnenswert war, die Produktion in ausreichendem Maße auszubauen, um die eingesparte Arbeit durch eine Erweiterung der Produktion auszugleichen. Stattdessen mussten neue Warentypen die bisher zentralen Waren – Arbeitskraft und industriell produzierte Güter – ersetzen. Dies geschah zunächst durch die Liberalisierung der Finanzmärkte. Überschüssiges Kapital konnte nun in Finanzmärkte investiert werden, wodurch kapitalistische Krisenprozesse in die Zukunft verschoben wurden.[6] Diese Entwicklung stabilisierte zwar das Gesamtsystem, führte aber gleichzeitig zu einer Aushöhlung der gesellschaftlichen Stellung der Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft.
Die Abstiegsgesellschaft
Die sich daraus ergebende und bis heute wirkmächtige politische Situation lässt sich als „Abstiegsgesellschaft“ beschreiben: Während die Verkäufer:innen industriell produzierter Waren und die Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft bis in die 1970er Jahre noch weitgehend auf Augenhöhe agieren konnten („Fordismus“), hat sich das Verhältnis inzwischen deutlich zugunsten der Unternehmen verschoben. In der Folge dieser Verschiebung verändert sich das Verhältnis der unterschiedlichen Gruppen von Warenverkäufer:innen zueinander. Die Möglichkeiten zur unternehmerischen Gewinnerzielung (durch den Verkauf industriell produzierter Waren) und die Teilhabemöglichkeiten der Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft stellen sich zunehmend als asymmetrisch dar. Damit geht eine Polarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einher.[7] Dadurch driften gesellschaftliche Gruppen auseinander, und das Versprechen eines allgemeinen sozialen Aufstiegs innerhalb der Verhältnisse lässt sich immer weniger erfüllen.
Diese Entwicklung liegt nicht an einer Vernachlässigung von Arbeitskämpfen durch die politische Linke. Deren Niedergang wäre vielmehr (im gesellschaftskritischen Sinne „materialistisch“) aus der wirtschaftlichen Veränderung zu erklären, welche die Bedeutung der umkämpften Ware Arbeitskraft erfahren hat. Seit den 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren lösen sich die sozialen und rechtlichen Standards zunehmend auf, die den Verkauf der Arbeitskraft regulierten. Maßnahmen wie die Einführung von Leiharbeit und die aktuell geführten Debatten über längere Arbeitszeiten sind zentrale Beispiele hierfür. Ganz offensichtlich fällt es (nicht nur in Deutschland, sondern global) immer schwerer, die bisherigen Standards aufrechtzuerhalten, je stärker sich die Verkaufsbindungen der zugehörigen Ware verschlechtern. Hier wird einmal mehr deutlich, welche einschneidenden Folgen die Organisierung der Welt über das Prinzip der „Ware“ mit sich bringt.
Diese Verschiebung führt auch zu einer Auflösung des sozialen Zusammenhalts, der bisher durch Arbeit hergestellt wurde. Es lösen sich allgemeine, verbindliche gesellschaftliche Normen zunehmend auf; demokratische Selbstverständlichkeiten werden zurückgebaut, mittlerweile sogar unter Mithilfe konservativ-demokratischer Parteien wie der CDU. In manchen Industriestaaten des „globalen Nordens“ zeigt sich dieser Prozess als ein schrittweiser Zerfall staatlicher Autorität, die stattdessen durch mafiös agierende Cliquen ersetzt wird. Während dieser Zerfall in Russland schon lange fortgeschritten ist, sind auch in den USA und zunehmend in Deutschland alarmierende Zeichen dieses Trends erkennbar – etwa durch die zunehmende Ignoranz gegenüber politischem Fehlverhalten, das früher Skandale ausgelöst hätte.
Die autoritäre Krisenerzählung
Vor dem beschriebenen sozial-politischen Hintergrund entsteht eine autoritäre Krisenerzählung, die sich in vielen Weltregionen erstaunlich ähnlich darstellt. Dabei wird auf die eingangs dargestellten Vorstellungen vom vereinzelten, mit Verfügungsmacht über Eigentum ausgestatteten (meist männlichen) Individuum ebenso zurückgegriffen, wie auf die Konstruktion einer nationalen Gemeinschaft. Auch in den aktuellen autoritären Zeitdiagnosen wird die Gesellschaft gedanklich in zwei Gruppen geteilt: Auf der einen Seite steht das „gute“, arbeitende und wohlmeinende Volk, auf der anderen eine als natürlich angenommene äußere Gefahr. Diese Bedrohung wird meist mit internationalen Handels- und Finanznetzwerken sowie einem abgehobenen politischen Establishment im eigenen Land verbunden. Auf eine explizite Verknüpfung dieser Stereotype mit direkt antisemitischen Bildern wird derzeit zumindest in den Mainstream-Debatten noch verzichtet, bei den ideologischen Stichwortgeber:innen finden sie sich freilich zuhauf.
Diese Erzählung greift reale polit-ökonomische Wandlungen auf, etwa die neue Phase der finanzmarktdominierten Kapitalakkumulation. Gerade weil sie allgemeine Erfahrungen von Marginalisierung und Abstiegsängsten thematisiert, kann sie derartig wirkmächtig werden. Doch die autoritäre Erzählung interpretiert diese Entwicklungen nicht als Reaktion auf die tiefgreifende Krise des traditionellen, arbeitszentrierten Kapitalismus seit den 1970er Jahren. Stattdessen beharrt sie auf der Vorstellung, die politischen Eliten hätten das „gute, arbeitende Volk“ willentlich und bewusst an skrupellose, gierige Finanzjongleure „verraten“.
Das politische Ziel dieser Krisenerzählung ist die Rückkehr zur alten, fordistischen Ordnung der 1950er und 60er-Jahre. Einerseits sollen die vermeintlichen Eliten entmachtet werden. Andererseits soll die Marktposition der einheimischen, männlichen Arbeitskraft gestärkt werden – unter anderem durch massenhafte Abschiebungen und eine Rückbesinnung auf die vermeintlichen Zuständigkeiten von „Frauen“ für Küche, Kirche und Kinder.
Wir sollten diese Vision allerdings nicht als realistische politische Perspektive zu verstehen, die sich in der globalisierten kapitalistischen Welt durchsetzen könnte. Der Kapitalismus ist über diese Phase längst hinausgewachsen und sie wird sich auch nicht staatlich-administrativ wieder herstellen lassen. Darüber hinaus wäre eine Rückkehr in die bornierte Enge der 1950er-Jahre auch gesellschaftspolitisch alles andere als wünschenswert.
Trotzdem erfüllt diese Erzählung eine wichtige ideologische Funktion. Sie spricht Menschen als einzelne Individuen an, die ihren Lebenssinn daraus ziehen, über die Dinge in ihrer Lebenswelt zu verfügen und diese zu kontrollieren. Diese Vorstellung versetzt insbesondere den weißen Mann in eine Wunschwelt, in der er als legitimierter „Platzanweiser“ für alle Dinge gelten kann, die als nicht handlungsfähiges Subjekt angesehen werden. Genau deshalb gehen mit dieser Haltung Misogynie, Naturzerstörung und rassistische Politik so häufig Hand in Hand. Hinter all dem steht somit ein Aushandlungsprozess, in dem die Grenze zwischen dem handlungsfähigen Warensubjekt und der objektivierten Natur immer wieder neu bestimmt werden soll.
Antiautoritäre Alternativen
Die politische Linke steht dieser gesellschaftlichen Konstellation derzeit recht hilflos gegenüber. Es ist offensichtlich, dass die traditionellen, identitätsstiftenden Konzepte der Klassenpolitik heute nicht mehr funktionieren und auch nicht mehr funktionieren können. So wichtig es ist, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, so klar zeigt sich auch, dass diese Strategie immer weniger ausreicht, um deren Lebensstandard dauerhaft zu abzusichern. Eine emanzipatorische Perspektive kann deshalb nur jenseits der Warengesellschaft liegen.
Dabei lassen sich einige zentrale Prämissen herausarbeiten, von denen im Folgenden zwei skizziert werden sollen. Zum einen geht es darum, soziale Kämpfe tatsächlich selbstbewusst zu führen. Diese Kämpfe sollten aber nicht als Integrationskämpfe in die herrschende Klassengesellschaft verstanden werden – also nicht als Kämpfe um bessere Bedingungen für den Verkauf der Ware Arbeitskraft –, sondern als Kämpfe, die bewusst auf eine gesellschaftliche Perspektive jenseits der Warengesellschaft zielen. Kämpfe etwa für Arbeitszeitverkürzung, also um eine Verringerung der Zeit, in der ich mich als Ware verkaufen muss, bieten Perspektiven für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Frage, wie wir eigentlich Leben wollen. Kämpfe für eine solidarische und vergesellschaftete öffentliche Infrastruktur (Verkehr, Bildung, Wissenschaft, Kultur, Care) bieten gute Ansatzpunkte, um die Reproduktionskosten der Arbeitskraft – und folglich die Lohnabhängigkeit – zu senken und so die Verkäufer:innen dieser Ware in eine bessere Position zu bringen.
Darüber hinaus sollte die politische Praxis stets darauf ausgerichtet sein, gesellschaftliche Mechanismen zu schaffen, die verallgemeinerbar sind. Sicherlich ist es richtig, dass die herrschenden Formen gesellschaftlicher Allgemeinheit im Rahmen des Kapitalismus für emanzipatorische Prozesse nur eingeschränkt nutzbar sind: Staat, Arbeit, Markt und Geld stellen keine brauchbaren Leitbilder für eine befreite Gesellschaft dar. Denn sie vereinheitlichen die sozialen Beziehungen auf ein einzelnes Prinzip, über das sich die Gesellschaft organisieren soll. Aber völlig gleich, ob es sich bei diesem Prinzip um „Geld“ oder „Arbeit“ handelt
Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Befreiungsperspektive ohne eine Vorstellung von einem emanzipatorischen „Universalismus“ zu haben ist.[8] Vielmehr muss es darum gehen, die bisher repressiven Formen gesellschaftlicher Allgemeinheit durch progressive, demokratische und antiautoritäre Beziehungsweisen zu ersetzen. Wie dies theoretisch und praktisch gelingen kann, wird eine zentrale Aufgabe für politische Kontroversen innerhalb einer befreiungsorientierten Linken sein.
Wir hoffen, dass diese Diskussionen und Auseinandersetzungen bald beginnen werden.
[1] Vgl. „Kapitalismus als Wissensgesellschaft“ in diesem Reader
[2] Dass die meisten Menschen keine andere Ware als ihre Arbeitskraft anzubieten haben, führt zu einer Dynamik, in der die Menschen ein instrumentell-verdinglichtes Verhältnis zu sich und ihrem Körper einnehmen müssen. Es ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Bestimmung, dass ihre soziale Beziehung auf Arbeit beruht. Vgl. „Kapitalismus als Wissensgesellschaft“ sowie „Wem gehört die Vernunft?“ in diesem Reader.
[3] Auf diese Weise wird die gute Nation als natürliches Kollektiv verstanden, dem eine äußerliche Gruppe von Geldbesitzer:innen gegenübersteht. Die im Kapitalismus notwendig verschränkten Momente von konkreter Tätigkeit („konkrete Arbeit“) und abstrakt-gesellschaftlicher Vermittlung („Geld“) werden so nicht in ihrer Verschränkung, sondern als gegensätzliche Momente eines äußerlichen Verhältnisses begriffen. Vgl. hierzu ausführlich: Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus, online nachzulesen unter https://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus/
[4] Während die Verkäufer:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um an die Mittel ihres Lebensunterhalts zu gelangen, kaufen die Eigentümer:innen der Produktionsmittel diese nur zu dem Zweck ein, aus ihrer Anwendung eine Vermehrung ihres eingesetzten Geldes zu ziehen. Dieser Gewinn, der zu einem Teil von den Eigentümer:innen konsumiert und zu einem anderen in die Erweiterung der Produktion investiert wird, firmiert im traditionellen Marxismus als „Ausbeutung“. Dieser Mechanismus, der die Grundlage für die Politik der Arbeiter:innenbewegung gelegt hat, setzt jedoch voraus, dass die Ware Arbeitskraft eine zentrale Rolle in der kapitalistischen Ökonomie einnimmt.
[5] Vgl. auch Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle: Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster: Unrast 2013, S. 79 – 97
[6] Zu den grundlegenden Zusammenhängen dieser Transformation vgl. „Kapitalismus als Wissensgesellschaft“ in diesem Reader.
[7] Die Dynamiken, die wir hier nur andeuten können, führen sowohl zu einem Auseinanderdriften der Klassen und einer stärkeren Betonung individueller Positionierungen innerhalb dieser Klassen. Mit dem Begriff „Klassen“ werden in der Marxschen Kapitalismuskritik unterschiedliche funktionale Gruppen von Warenverkäufer:innen bezeichnet. Die Verkäufer:innen industriell produzierter Waren firmieren als „Kapitalist:innenklasse“, die Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft hingegen als „Arbeiter:innenklasse“. Durch die angedeuteten Transformationen haben sich nicht nur vielfache Binnengegensätze in diese Klassen eingeschoben, es hat zudem die ökonomische Bedeutung anderer Klassen (z.B. die der Grundeigentümer:innen als Verkäufer:innen der Ware Boden, die der Finanzkapitalist:innen als Verkäufer:innen der Ware Kapital oder die der Verkäufer:innen von Informationswaren (Software etc.)) zugenommen. In der Folge erscheint die Klassentheorie nicht länger als Mittel zur Präzisierung emanzipatorisch zu benennender Konfliktlinien, sondern als recht stumpfes, binnenkapitalistisches Instrument zur Beschreibung innerkapitalistischer Konfliktlagen.
[8] Der Begriff des Universalismus stammt aus dem Zeitalter der Aufklärung und bezeichnet hier zumeist den Anspruch, die Vielfalt der Wirklichkeit auf ein einzelnes, ordnendes Prinzip zurückzuführen. In diesem Sinne wohnt der warenproduzierenden Gesellschaft ein negativer Universalismus inne, denn in dieser Gesellschaft wird ja tatsächlich die gesamte Wirklichkeit auf das Prinzip von Kaufen und Verkaufen heruntergebrochen. Unabhängig von der berechtigten Kritik an der damit einhergehenden Vereinheitlichungstendenz der kapitalistischen Moderne wird eine emanzipatorische Bewegung jedoch nicht ohne allgemeine und verbindliche Vorstellung von Autonomie und Freiheit auskommen können. In diesen emanzipatorischen Praxen müsste sich die Freiheit nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Beziehungen, sondern gerade durch die emanzipativen Beziehungsweisen vollziehen.