Einleitung

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Stell dir vor wir würden nur studieren, weil wir mehr verstehen wollen – die Welt, die Gesellschaft, vielleicht auch uns selbst. Eigentlich sollte das im Zentrum stehen: die Lust am Lernen, an neuer Erkenntnis, an kritischem Denken. Und gerade in einer sogenannten „Wissensgesellschaft“ müsste genau das doch einen besonders hohen Stellenwert haben. Schließlich wird überall betont, wie wichtig Wissen für Zukunft, Fortschritt und persönliche Entwicklung sei.

Doch die Realität an der Uni sieht oft anders aus. Statt genügend Zeit zu haben, um uns kritisch mit der Welt auseinanderzusetzen, müssen wir uns zunehmend fragen, wie wir über die Runden kommen. Miete, Essen, Strom, Semesterbeiträge – alles wird teurer. Viele von uns sitzen nicht in der Bibliothek, sondern an der Supermarktkasse oder radeln für den Lieferdienst, um das Studium überhaupt finanzieren zu können. Statt mit freiem Kopf zu lernen, hetzen wir von Job zu Job und bleiben erschöpft zurück. Und so wird das, was im Mittelpunkt stehen sollte, permanent verdrängt: die Chance auf Bildung und die Hoffnung, „wirklich“ zu studieren. Das nervt − und schreit nach einer Antwort auf die Frage, warum das eigentlich so ist.

Dieser Reader will dir darauf keine billigen Antworten liefern. Er will keine moralischen Appelle („lerne härter, sei flexibler, lebe selbstbestimmter, kaufe nachhaltiger“) herunterbeten. Stattdessen soll er helfen, eine Sprache für das zu finden, was viele von uns längst spüren: Dass hinter all dem Stress, den steigenden Mieten, dem Leistungsdruck an der Uni und den immer neuen Krisenerscheinungen eine gemeinsame Logik steckt – die Logik des Kapitalismus.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen zwar ständig beschworen wird, in der aber Wissen nicht frei zugänglich ist, sondern zur Ware wird. Wir studieren an einer Universität, in der Bildung nicht in erster Linie der Selbstbestimmung dient, sondern als „Investition ins Humankapital“ zur Ausbildung für den Arbeitsmarkt verkommt. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen der Rede von der Wissensgesellschaft und den ökonomischen Realitäten dieser Gesellschaft. Zunächst geht es ums „Verstehen“, am Ende hingegen immer nur ums Verkaufen. Warum das so ist, möchten die Texte in diesem Reader beleuchten.

Dabei geht es nicht um trockene Theorie, sondern um das Begreifen unserer eigenen Lebensbedingungen in ihrem Zusammenhang. Warum steigen die Mieten und die Energiepreise? Warum fühlen sich Studium und Arbeit zunehmend fremdbestimmt an, auch wenn man offiziell „frei wählen“ darf? Warum schafft es die Gesellschaft nicht, das Wissen über die Klimakrise konsequent umzusetzen? Warum halten sich veraltete Geschlechtervorstellungen derart hartnäckig? Warum finden autoritäre Krisenlösungen immer wieder gesellschaftlichen Mehrheiten, während solidarische Lösungsansätze immer wieder versanden?

Der Reader versteht sich nicht als abgeschlossenes Lehrbuch, sondern als Werkzeugkasten. Du kannst chronologisch lesen oder dort einsteigen, wo dich die Fragen am meisten packen – ob beim Blick auf die digitale Ökonomie, auf Geschlechterverhältnisse, auf steigende Preise, auf die Klimakrise oder auf die Autoritarisierung der Gesellschaft. Entscheidend ist: Alle diese Themen hängen zusammen, weil sie Ausdruck derselben gesellschaftlichen Struktur sind.

Wir wünschen uns, dass du beim Lesen nicht nur Aha-Momente hast, sondern auch Lust bekommst, weiterzudenken, zu diskutieren und Widerspruch einzulegen – sei es im Seminar, in politischen Gruppen oder einfach am Küchentisch mit Freund:innen. Es geht nicht darum, dass du allem zustimmen musst. Sondern darum, zu verstehen, wie sehr unsere Alltagserfahrungen mit größeren gesellschaftlichen Prozessen verknüpft sind.

Kurz gesagt: Dieser Reader will keine fertige Weltanschauung liefern – er will eine Brille anbieten, die helfen kann, die Welt klarer, in ihren Widersprüchen und kritischer zu sehen. Er möchte Anregungen geben, um neue Debatten und Perspektiven für eine kritische Analyse der Gegenwartsgesellschaft zu entwickeln. In diesem Sinne freuen wir uns auf eine anregende Diskussion.


Ein Gemeinschaftsprojekt des AStA Uni Göttingen und des AStA Uni Frankfurt a.M.

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