Zurück zur Vorschau

Kapitalismus als Wissensgesellschaft

Die Universität im Zentrum kapitalistischer Widersprüche

Alle sprechen heute von der Wissensgesellschaft[1] – egal ob in Politik, Wirtschaft oder an der Uni. Klar ist: Wissen spielt eine zentrale Rolle in unserem Alltag. Aber was genau bedeutet das eigentlich für uns und die Welt, in der wir leben?

Neben dem Begriff Wissensgesellschaft hört man auch oft, dass wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, dass unsere Gesellschaft sich also als „Kapitalismus“ bestimmen lässt. Bis vor etwa zwanzig Jahren galt es zumindest in Deutschland als verpönt, vom Kapitalismus zu sprechen. Viel eher war die Rede davon, dass wir in einer Sozialen Marktwirtschaft leben, von Kapitalismus also gar keine Rede sein könne.

Ein Missverständnis könnte darin liegen, den Kapitalismus mit seiner frühen Form, dem sog. Manchester-Kapitalismus[2], zu verwechseln. Diese Phase war durch weitgehend unregulierte Arbeitsverhältnisse und eine weitgehende Rechtlosigkeit der Arbeiter:innen bestimmt. Da in der Sozialen Marktwirtschaft die Arbeitsverhältnisse rechtlichen und tarifvertraglichen Beschränkungen unterliegen und die Arbeiter:innen als kollektive Verkäufer:innen ihrer Ware, der Arbeitskraft, anerkannt sind, hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dies sei kein Kapitalismus mehr. Kapitalismus bedeutet aber mehr als nur die uneingeschränkte Freiheit der Unternehmer:innen. Er beschreibt ein gesellschaftliches System, das auf der Produktion von Waren beruht und die Menschen in Anhängsel einer selbstzweckhaften Vermehrung von Geld verwandelt. Daher hat der Kapitalismus auch seinen Namen: Geld, das sich vermehrt und vermehren muss, wird in der kritischen Theorie der Gesellschaft Kapital genannt.

Am Ende läuft es oft darauf hinaus: Arbeiten, um zu arbeiten, und Geld verdienen, um noch mehr Geld zu verdienen – das ist die zentrale Logik des Kapitalismus. Und die hat viel zu tun mit der Rolle, die Wissen in unserer Gesellschaft einnimmt. Grund genug, hier genauer hinzusehen.

Die Durchsetzung des Kapitalismus

Ein entscheidender Schritt zur Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft war ein Prozess, den Sozialwissenschaftler:innen oft als „Entbettung“ bezeichnen.[3] Was geschah damals? Mehrere eng miteinander verbundene Entwicklungen haben diese Zeit geprägt.

Zum einen brauchten die Herrschaftshäuser in Europa zur Erhaltung ihrer Macht mehr militärische Power und setzten deshalb zunehmend auf Söldnerheere statt darauf, Bauern oder Leibeigene zu rekrutieren. Diese Soldaten waren in räumlich sehr großen Gebieten unterwegs und wurden mit Geld entlohnt. Das bislang übliche System von Naturalabgaben erwies sich damit zunehmend als unbrauchbar. Und es kam zur gesellschaftlichen Durchsetzung einer Geldwirtschaft.

Gleichzeitig wurden die bisherigen, oft sehr komplexen Nutzungsrechte an Land und Wäldern in modernes Privateigentum umgewandelt. Viele Menschen verloren so ihre Lebensgrundlage und waren fortan auf sich allein gestellt.

Land und Ressourcen wurden so zu Privateigentum. Und es ist kein Zufall, dass das Wort privat vom lateinischen privare stammt, das so viel wie „abgesondert, beraubt, getrennt“ bedeutet. Die Menschen sind nun vom gesellschaftlichen Reichtum abgetrennt und auf sich selbst verwiesen. Privateigentum bedeutet vor allem, dass Menschen den Zugang zu den Möglichkeiten der Gesellschaft verlieren und nur noch das nutzen dürfen, was ihnen persönlich gehört. So entsteht eine Form von Reichtum, die für alle mit Verarmung verbunden ist: Alle sind auf das eigene beschränkt und vom Rest der Welt abgeschnitten.

Und noch ein weiterer Prozess findet in dieser Zeit statt: zusammen mit der Auflösung der traditionellen Sozialbeziehungen kommt es mit der Herauslösung der Ökonomie aus der Gesellschaft auch zur Durchsetzung einer historisch neuen Vorstellung von Familie und Privatheit und zur Entstehung von Geschlechterstereotypen, die eine biologische Verknüpfung von Männlichkeit mit Aktivität und Ökonomie sowie Weiblichkeit mit Passivität und Sorge darstellen.[4]

Kapitalismus: Eine abstrakt-veräußerlichte Beziehung zwischen vereinzelten Individuen

Die moderne Gesellschaft lässt sich auf struktureller Ebene als Durchsetzung eines verallgemeinerten Warenverkehrs beschreiben. Weil nun fast alles Privateigentum ist und der direkte Zugang der Menschen zum gesellschaftlichen Reichtum versperrt wurde, mussten sich neue, indirekte soziale Beziehungen herausbilden, die regeln, wer Zugang zu den nützlichen Dingen hat. Menschen gehen also arbeiten und produzieren Waren, die sie dann gegen Geld tauschen. Auf diese Weise setzen sie sich über die Produkte ihrer Arbeit (die Waren) in eine gesellschaftliche Beziehung zueinander. Diese Beziehung nennt Karl Marx in seiner kritischen Theorie Wert.

Die Grundlage dieser Beziehung ist, dass Menschen nicht unmittelbar, sondern über die Waren miteinander verbunden sind. Weil sie ihre Beziehungen nur indirekt, über diese Dinge herstellen, wird von der Tradition der Kritischen Theorie[5] oftmals von Verdinglichung gesprochen.

Im Kapitalismus hat Arbeit deshalb nicht in erster Linie die Funktion, nützliche Dinge herzustellen (Marx spricht hier von „konkreter Arbeit“), sondern vor allem die Aufgabe, die gesellschaftliche Vermittlung zwischen den einzelnen Menschen herzustellen („abstrakte Arbeit“). In dieser Dimension lässt sich die Arbeit als abstrakte Arbeit beschreiben. Dieser Doppelcharakter der kapitalistischen Tätigkeitsform Arbeit spiegelt sich in einem Doppelcharakter der kapitalistischen Reichtumsform. Die Dinge erscheinen uns einerseits als Gebrauchswerte, insofern sie uns nützlich sind. Sie verfügen zudem aber über einen Tauschwert, da wir sie erst umständlich in einem Geschäft erwerben müssen.

Viele Menschen können jedoch selbst keine Waren produzieren und verkaufen, weil ihnen die nötigen Mittel wie Geld, Maschinen oder Rohstoffe fehlen. Sie stehen trotzdem nicht außerhalb der Warengesellschaft, sondern verkaufen die einzige Ware, über die sie verfügen: ihre Arbeitskraft. Diese ist untrennbar mit ihrer eigenen Person verbunden. So sind sie gezwungen, das veräußerlichte und instrumentelle Verhältnis, das Menschen zu Waren einnehmen, auch auf sich selbst anzuwenden.

Als Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft wollen sie einerseits möglichst viel Lohn für möglichst wenig Anstrengung erhalten, müssen aber zugleich hoffen, dass das eigene Unternehmen im Wettbewerb bestehen kann. Für Unternehmen wiederum ist es entscheidend, Waren mit möglichst wenig Aufwand – also mit möglichst wenig Arbeitszeit – herzustellen, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Das gelingt durch Rationalisierung, bessere Organisation oder neue Technik: Am Ende ist es immer eine Form von Wissen, die den ökonomischen Vorteil ausmacht.

Die Verwissenschaftlichung der Produktion spielte daher schon früh eine zentrale Rolle in der kapitalistischen Entwicklung. Zunächst waren es Einzelne, die entscheidende Neuerungen entwickelten – James Watt machte die Dampfmaschine 1764 marktreif, James Hargreaves erfand 1765 die Spinnmaschine. Im Laufe des 19. und besonders des 20. Jahrhunderts verlagerte sich die wissenschaftliche Grundlagenforschung zunehmend an die Universitäten, wo sie zur systematischen Entwicklung neuer Produktionsmethoden beitrug. Erst in den 1880er-Jahren wurden auf dem Gebiet der Elektrizität wissenschaftliche Entdeckungen gemacht, die aus einem ausgelagerten wissenschaftlichen Komplex heraus neue, im großen Maßstab für die kapitalistische Produktion anwendbare, Technologien hervorgebracht haben (Telegraph, Glühbirne etc.). Mit diesem wissenschaftlichen Schub konnte sich der Prozess, den Marx in seiner grundlegende Studie Das Kapital bereits logisch vorgezeichnet hat, auch real vollziehen.

Verwissenschaftlichung und Wachstum

Der Trend zur Verwissenschaftlichung im Kapitalismus geht einher mit einem ständigen Zwang zum Wachstum. Unternehmen müssen kontinuierlich Gewinne erzielen, um in neue, leistungsfähigere Arbeitsmittel investieren zu können. Bleiben diese Gewinne aus, droht ihnen die Insolvenz – und den Beschäftigten der Verlust ihrer Arbeitsplätze.[6] Die wechselseitige Abhängigkeit von Gewinnerzielung und Reinvestition in die Produktion ist ein zentraler Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft: Die Produktion wird zum Zweck, der sich selbst genügt und bei dem es längst nicht mehr um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geht.

Hier hat auch die hohe religiöse Bedeutung, die die Arbeit im politischen Diskurs hat, ihre Ursache. Ebenso wie der Gelderwerb wird auch die Arbeit zu einem Selbstzweck, der (angeblich) den ganzen Menschen ausmachen soll und dem nachzukommen mit der Erfüllung ihrer innersten Wünsche einhergeht. Damit wird dann auch noch der unangenehmste und erniedrigendste Job gerechtfertigt und die Menschen werden aufgefordert, froh zu sein, ihn zu haben. Gesellschaftskritik ist deshalb nicht ohne eine Kritik der Arbeit zu haben.

Im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung kommt es immer wieder zu tiefgreifenden Sprüngen in der Produktivität, die in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als industrielle Revolutionen bezeichnet werden. Mit jeder dieser Revolutionen verbessern sich die Möglichkeiten der effizienten Herstellung der Waren. Dadurch ergibt sich ein widersprüchlicher Effekt. Einerseits können Maschinen und neues Wissen menschliche Arbeit ersetzen, so dass die bislang hergestellten Dinge mit weniger Aufwand und so mit weniger Arbeit hergestellt werden können. Andererseits hingegen entstehen aber auch neue Produkte und Branchen, die wiederum neue Arbeitskräfte benötigen.

Die erste industrielle Revolution – bei der die Dampfmaschine hervorgebracht wurde – hat die technische Basis der Warenproduktion massiv ausgeweitet und den Kapitalismus entscheidend vorangetrieben. Es konnten nun Eisenbahnen, Dampfschiffe und schwere Maschinen gebaut und verkauft werden. Auch für die folgenden industriellen Revolutionen galt dieses Prinzip. Zwar kam es immer wieder zu schweren Krisen, wie der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre, doch konnten diese durch staatliche Eingriffe in einem überschaubaren Zeitraum aufgefangen werden.[7]

Dabei spielten bisweilen auch die Aufnahme von Krediten und ähnliche Finanzierungsstrategien eine Rolle. Sie waren jedoch eng an die Ausweitung der Warenproduktion gebunden. Die Rückzahlung von Krediten und Zinsen war nur möglich, weil die Gewinne aus der Produktion stammten. In dieser Phase stand die industrielle Warenproduktion und die damit verbundene produktive Arbeit im Zentrum des Kapitalismus. Diese Ordnung wurde jedoch ab den 1970er-Jahren durch neue Entwicklungen im Bereich des Wissens grundlegend in Frage gestellt.

Die mikroelektronische Revolution und der Aufstieg der Finanzmärkte

Nach der ersten industriellen Revolution (Dampfmaschine) und der zweiten (Elektrifizierung und Fließband) gilt die Entwicklung der Mikroelektronik als dritte industrielle Revolution. Ein entscheidender Einschnitt war hier die breite Einführung von Computern und Digitaltechnik in den 1970er-Jahren. Wie schon die vorherigen Revolutionen brachte auch diese Phase zahlreiche neue Produkte hervor – von Personalcomputern und Mobiltelefonen bis hin zu elektronisch gesteuerten Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen oder Mikrowellen.

Gleichzeitig führte der Einsatz von Computern und Industrierobotern zu einer massiven Rationalisierung der Produktion: Immer mehr Arbeitsprozesse wurden automatisiert, sodass immer mehr Produkte mit immer weniger menschlicher Arbeit hergestellt werden konnten. So wurde die flächendeckende Anwendung des neuen Wissens in den 1970ern zum Krisenmotor. Es entstand eine Phase wirtschaftlicher Stagnation. Die Regierungen der kapitalistischen Kernstaaten versuchten, wie bereits in früheren Krisen, mit höheren Staatsausgaben die Nachfrage anzukurbeln. Doch diesmal trat der erwünschte Effekt nicht ein. Durch das neu verfügbare Wissen konnten die neuen Produkte mit so wenig zusätzlicher Arbeit hergestellt werden, dass die Beschäftigung trotz staatlich angekurbelter Nachfrage zurückging. Die Wirtschaft stagnierte weiter, während das zusätzliche Geld, das in die Wirtschaft gepumpt wurde, vor allem die Preise steigen ließ. So entstand ein Phänomen, das in der klassischen Wirtschaftstheorie eigentlich nicht vorgesehen war: die sogenannte Stagflation – eine gleichzeitige Kombination aus Stillstand und Inflation.[8]

Dieser Kriseneinbruch markierte das Ende der bis dahin dominierenden keynesianischen Wirtschaftspolitik.[9] An ihre Stelle trat der Neoliberalismus, der vor allem auf die Öffnung und Deregulierung der Finanzmärkte setzte. Überschüssiges Kapital, das in der industriellen Produktion keine Verwendung mehr fand, wurde nun in Finanzmärkte, Immobilien und neue Anlageformen umgeleitet. Gleichzeitig wurden zahlreiche staatliche Unternehmen und Infrastrukturen privatisiert, sodass Bereiche wie Telekommunikation, Energieversorgung und Verkehr zu neuen Investitionsfeldern wurden. Mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Ökonomien in Osteuropa kamen weitere Privatisierungsperspektiven hinzu.

Ein zentrales Merkmal dieser neuen Phase ist die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte: Hier konnte das überschüssige Kapital, für das es in der Produktion keine rentable Anwendung mehr gab, in spekulative Anlagen investiert werden, die auf zukünftige Gewinne hoffen ließen. Damit verschiebt sich auch die Rolle des Wissens: Nicht mehr das vorhandene, in der Produktion nutzbare Wissen steht im Mittelpunkt, sondern immer stärker das prognostizierte, auf zukünftige Möglichkeiten gerichtete Wissen. Dieses noch nicht existente, in gewisser Weise fiktive Wissen soll dann − möglicherweise − in der Zukunft zur Realisierung von Geschäften genutzt werden und so satte Gewinne erwirtschaften helfen. Ganz gleich, ob es um die Besiedelung des Mars, die Endlagerung von Kohlendioxid, den Einsatz von E-Fuels im Automobilverkehr oder die Produktion selbstfahrender Autos geht − die Produktion von Finanzmarkttiteln kann auch bei unrealistischen Zukunftsprojekten bereits im Hier und Jetzt ihre Wirkung entfalten. Diese Entwicklung trägt die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten. Sie prägt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Organisation von Forschung, Bildung und Wissenschaft.

Dieser Zusammenhang wird in linken Diskussionen − falls überhaupt − oftmals auf eine merkwürdige Weise thematisiert. Es wird dann der Eindruck erweckt, als sei die Bedeutungszunahme der Finanzmärkte die Folge falscher Politik und die Ursache für die Schwäche der industriellen Produktion. Es ist daher wichtig, hier noch einmal festzuhalten, dass der historische Zusammenhang genau umgekehrt war: Die Bedeutungszunahme der Finanzmärkte war die Lösung, die sich der Politik für die Krise in der industriellen Produktion aufgedrängt hat.

Allgemeine Arbeit als Basis des neuen Akkumulationsregimes

Die Veränderungen seit den 1970er-Jahren lassen sich auch mit Begriffen der politischen Ökonomie beschreiben. Bis zur Krise des Fordismus[10] war der vorherrschende Typus von Arbeit, wie Marx ihn nennt, die „Privatarbeit“. Damit ist Arbeit gemeint, die direkt auf die Herstellung konkreter Dinge zielt, deren Ergebnis eindeutig einer Person oder einem Betrieb zugeordnet werden kann. Zum Beispiel: Wer Hemden näht, produziert ein klares Produkt, das verkauft und damit aus dem Eigentum einer Person in das einer anderen übergeht. Es ist völlig klar und einsichtig, welche Arbeitstätigkeit hier zu welcher Ware gehört bzw. wie viel Arbeit für die Herstellung der Ware benötigt wurde.

In der heutigen Wirtschaft spielen solche Tätigkeiten zwar weiterhin eine Rolle, doch sie sind nicht mehr das Zentrum der Unternehmensaktivitäten. Viel wichtiger sind inzwischen Aufgaben, die den Rahmen für Produktion und Verkauf schaffen: etwa die Beobachtung von Märkten, die Entwicklung neuer Produkte oder das Erarbeiten von Werbe- und PR-Strategien. Diese Tätigkeiten sind für den Markterfolg unerlässlich, gehören aber nicht mehr direkt zur Herstellung eines einzelnen Produkts. Sie fallen unabhängig davon an, wie viele Hemden tatsächlich produziert werden. Die konkrete Produktionsarbeit hingegen spielt eine immer geringere Rolle.[11] Denn sie wird zunehmend durch eine immer weiter fortschreitende Verbesserung der technischen Produktionsbedingungen überflüssig gemacht.

Die Tätigkeiten, die nun im Zentrum der unternehmerischen Tätigkeit stehen, sind unzweifelhaft notwendig, um das Produkt an die Leute zu bringen. Nur: polit-ökonomisch sind sie nicht der direkten Warenproduktion, sondern dem betrieblichen oder gar gesellschaftlichen Overhead zuzurechnen.

Marx bezeichnet diese Form von Arbeit als „allgemeine Arbeit“. Dazu zählt vor allem wissenschaftliche, erfinderische und organisatorische Tätigkeit – also alles, was nicht unmittelbar ein konkretes Produkt herstellt, sondern als gesellschaftlicher Rahmen wirkt. Allgemeine Arbeit ist oft unabhängig von der Menge oder dem Aufwand der konkreten Produktion, sie schafft vielmehr die Voraussetzungen dafür, dass Produktion und Verkauf überhaupt möglich werden. Auch wissenschaftliche Tätigkeiten, wie sie an Universitäten stattfinden, zählen zu dieser Gruppe von Tätigkeiten.

Heute prägt diese allgemeine Arbeit unsere Ökonomie: Sie ist die Grundlage für die Sicherung von Absatzmärkten, die Erfindung neuer Geschäftsmodelle und die ständige Anpassung an sich verändernde Trends. Damit kommt es zu Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Rolle der Arbeit. Für die vereinzelten Individuen ist das Prinzip Arbeit zum Lebenserhalt nach wie vor zentral – doch innerhalb des wirtschaftlichen Prozesses spielt die klassische, direkt auf die Produktion individueller Waren bezogene Privatarbeit eine nurmehr untergeordnete Rolle.

Digitaler Kapitalismus und Wissensökonomie

Auch bei digitalen Produkten zeigt sich eine grundlegende Veränderung gegenüber der klassischen Warenproduktion. Wenn eine Firma beispielsweise ein Office-Paket entwickelt, dann ist es ja keineswegs so, dass sie dies in klassischer Weise an uns „verkaufen“ würde. Stattdessen wird eine digitale Vorlage – eine Art Blaupause – erstellt, die dann beliebig oft und ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand vervielfältigt und online verteilt werden kann. Das bedeutet: Die konkrete Arbeit steckt in der Entwicklung und Konzeption, nicht aber in der Vervielfältigung des Produkts selbst. Dadurch gerät die traditionell-kapitalistische Warenproduktion, in der Arbeit und Produkt direkt miteinander verknüpft sind, ins Wanken. Die gesellschaftliche Ordnung, die auf dem Kauf und Verkauf klar zurechenbarer Arbeitsleistungen basiert, gerät so in eine Krise.[12]

In diesem „digitalen Kapitalismus“ sind verschiedene Formen von allgemeiner Arbeit – wie Forschung, Entwicklung, Marketing oder Organisation – eng mit den Erwartungen an zukünftige Gewinne verbunden, die vor allem an den Finanzmärkten gehandelt werden. Besonders deutlich wird das bei vielen Hightech-Start-ups: Sie entwickeln eine Idee, sammeln in mehreren Finanzierungsrunden Geld ein und verkaufen dabei vor allem Anteile und Zukunftsversprechen – oft, bevor überhaupt ein fertiges Produkt existiert. Die so gewonnenen Mittel werden in die Entwicklung und Markteinführung investiert. Sobald das gelungen ist, wird das Projekt verkauft und aus den Gewinnen werden die Programmierer:innen und Tech-Ingenieur:innen ausgezahlt. Das kann unter Umständen zu einem Zeitpunkt passieren, an dem noch kein digitaler Gebrauchswert geschaffen, geschweige denn ein unternehmerischer Gewinn erzielt wurde. Im Zentrum steht hier also nicht mehr die materielle Produktion von Waren, sondern ein vielschichtiges System, das auf der Kapitalisierung von Zukunftserwartungen basiert. Wissen, Innovation und die Fähigkeit, mögliche zukünftige Entwicklungen zu antizipieren, werden damit zur wichtigsten Ressource und zum tatsächlichen Motor der kapitalistischen Dynamik.

Transformation von Lernen, Lehren und Arbeiten

Diese Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wirken sich direkt auf unser Leben aus. Die Art, wie gearbeitet, gelernt und gelehrt wird, hat sich grundlegend gewandelt.

Während sich in der Frühphase des Kapitalismus in den Betrieben personalisierte Befehlsketten herausgebildet haben und Anweisungen von oben kamen, werden heute viele Entscheidungen und Verantwortlichkeiten in die Belegschaft verlagert. Arbeitsprozesse werden zunehmend durch Zahlen, Kennwerte und sogenannte „Benchmarks“[13] organisiert, also durch Vergleichsmaßstäbe, die Leistung messbar machen sollen.

Dadurch werden die abstrakten Zwänge des Kapitalismus – etwa der ständige Druck zur Effizienzsteigerung – für die Beschäftigten immer spürbarer. Und es wird deutlich, dass sie nicht der Willkür der Vorgesetzten, sondern dem Selbstzweckprozess der Kapitalverwertung entspringen.

Klassische linke Ansätze tun sich mit dieser Verschiebung jedoch schwer. Weil keine direkte Anweisung von einem physisch wahrnehmbaren Vorgesetzten kommt, erscheint die Übertragung der Kontrolle auf digitale Plattformen manchen als emanzipativer Fortschritt gegenüber der alten, persönlichen Hierarchie. Die Anweisungen kommen anonymisiert, scheinbar objektiv und lassen sich oft flexibel ein- und ausschalten – das wirkt wie Autonomie. Auf diese Weise werden jedoch die strukturellen Zwänge der Märkte ausgeblendet und das neoliberale Versprechen von flachen Hierarchien und Selbstbestimmung scheint sich zu realisieren. Doch das ist eine Ideologie. Es waren schon immer die anonymen Strukturen kapitalistischer Herrschaft, denen die Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft untergeordnet waren. Hier zeigt sich, dass der traditionelle, personalisierte Klassenkampfdiskurs traditioneller Linker nicht in der Lage ist, die Arbeits- und Lebensverhältnisse auf der Höhe der Zeit zu kritisieren.

Diese Verschiebungen haben auch die Universitäten erfasst. Seit den 2000er-Jahren werden Hochschulen zunehmend wie Unternehmen geführt: Sie bieten „Bildungsdienstleistungen“ und Zertifikate an, konkurrieren um Fördergelder und müssen sich am Markt behaupten. Professor:innen und Dozierende verbringen immer mehr Zeit mit der Organisation von Projekten und der Einwerbung von Drittmitteln, statt mit Forschung und Lehre. Auch Studierende werden zunehmend aufgefordert, sich als „Humankapital“[14] zu betrachten – als Menschen, die in ihre Ausbildung investieren, um später für den Arbeitsmarkt möglichst attraktiv zu sein. Wer den Universitätsbesuch als Investition in ihre Zukunft begreift, kann sich schon einmal daran gewöhnen, dass die eigene Existenz, auch in der beruflichen Zukunft, auf die Rolle eines Anhängsels im gesellschaftlichen Maschinensystem reduziert wird.

Bildung und Wissenschaft im Widerspruch

Sicherlich: Der Kapitalismus hat das Wissen der Menschheit über ihre Lebensbedingungen enorm erweitert. Doch sein Anspruch, eine echte Wissensgesellschaft zu sein, steht auf wackligen Beinen. Denn Wissenschaft wird heute nicht primär betrieben, um gemeinsam neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern um die Vorgaben von Forschungsförderern, Promotionsgremien oder Ministerien zu erfüllen und so den Geldfluss zu sichern. Dafür müssen Wissenschaftler:innen ihr Wissen als Privateigentum behandeln – es wird nicht als gemeinsames Gut verstanden, sondern als Ware, aus der sich ein Geschäftsmodell entwickeln lässt. Wer es schafft, das eigene Wissen erfolgreich zu kommerzialisieren, kann davon möglicherweise profitieren.[15] Doch zugleich werden so die Potentiale einer offenen, gemeinschaftlichen Lern- und Forschungspraxis unterlaufen.

Das bedeutet freilich auch, dass Wissen nicht als allgemeines und zugängliches Gut behandelt wird, von dem alle Menschen profitieren können. Stattdessen wird es zum Privileg derer, die es schließlich schaffen, daraus ein Geschäftsmodell zu machen. Auf diese Weise werden die vielfältigen Möglichkeiten, die eine wissenszentrierte, an gemeinsamen Forschungsfragen orientierte Wissenschaft bieten würde, strukturell unterlaufen.

Die Warenlogik prägt auch das Selbstverständnis vieler Studierender. Die Universität erscheint nicht mehr als Ort der Selbstermächtigung oder freien Entfaltung, sondern als günstige Gelegenheit, das eigene „Humankapital“ zu steigern – also die eigene Arbeitskraft für den späteren Verkauf am Arbeitsmarkt aufzuwerten. Eigene Wünsche, Ideen und Vorstellungen spielen dabei kaum eine Rolle. Das ist kein Naturgesetz, sondern die Folge einer Gesellschaft, in der Menschen zu isolierten Konkurrenzsubjekten werden und ihre Gesellschaftlichkeit nur noch in der ungesellschaftlichen Form der Privatheit (und damit der Abgetrenntheit von der restlichen Welt) erfahren.

Bildung und Wissenschaft könnten mehr sein: ein Raum gemeinsamer Suche nach Erkenntnis, ein Ort solidarischer Entwicklung. Diese Möglichkeiten bleiben jedoch im kapitalistischen Rahmen strukturell beschränkt. Eine echte Wissensgesellschaft müsste diese Widersprüche überwinden und Bildung wie Wissenschaft als gemeinsames, solidarisches Projekt begreifen – jenseits von Marktlogik und Konkurrenz.

Kurzum: Bildung und Wissen dürfen keine Ware sein!


[1] Mit dem Begriff „Wissensgesellschaft“ ist gemeint, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der „Wissen“ auf die eine oder andere Weise eine zentrale Rolle spielt und das nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch unser individuelles Weiterkommen auf dem ständigen Erwerb von neuem Wissen beruht.

[2] Der Begriff Manchester-Kapitalismus geht auf Friedrich Engels zurück. Er bezieht sich auf den Kapitalismus der Industrialisierung in England. Manchester war damals das wirtschaftliche Zentrum.

[3] Die an Marx anschließende kritische Theorie hingegen spricht von der „sog. ursprünglichen Akkumulation“. Die Formulierung geht zurück auf Adam Smith, der die Durchsetzung der kapitalistischen Weltverhältnisse als Ausdruck des besonderen Fleißes der Reichen und der besonderen Faulheit der Armen interpretierte. Marx griff die Formulierung auf und zeigte dagegen, dass die Durchsetzung der modernen gesellschaftlichen Formen auf eine Geschichte von brutaler staatlicher Gewalt verweist.

[4] Vgl. hierzu ausführlich „Wem gehört die Vernunft?“ in diesem Reader; sowie Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben in: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Klett 1976; sowie Heide Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Suhrkamp 1996

[5] Die Kritische Theorie bezeichnet eine zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstandene Theorietradition, die in kritischem Anschluss an die Kapitalismuskritik von Marx versucht, kulturelle und psychosoziale Phänomene kohärent in eine gesellschaftskritische Erzählung einzubinden. Zur Einführung in die Kritische Theorie vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. Dtv 2001

[6] Es gehört zu den spezifischen Dilemmata der kapitalistischen Gesellschaft, dass sie neben der Arbeit eine in vielen Fällen noch schlimmere Alternative hervorgebracht hat und das diese gerade im Fehlen der Arbeit besteht.

[7] Auf diese Weise ist auch die Vorstellung entstanden, der Kapitalismus sei im Wesentlichen durch das Auf und Ab von wirtschaftlichem Aufschwung und wirtschaftlichem Abschwung gekennzeichnet. Krisen, so ist seitdem zu hören, seien dem Kapitalismus immanent und hätten stets die Funktion von „Reinigungskrisen“, durch die nicht konkurrenzfähige Kapitale aus dem Rennen geworfen und die übrigen mit neuem Ehrgeiz wie gehabt weitermachen würden. Diese Beobachtung ist für die Krisenentwicklung bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts auch durchaus korrekt − zielt jedoch an dem Kern der heutigen Entwicklung vorbei. Denn der aktuelle Krisenprozess hat einen anderen Charakter als die Krisen des 19. Jahrhunderts.

[8] Diese Wortschöpfung verbindet die wirtschaftliche Stagnation (kein Wirtschaftswachstum) mit der Inflation (Steigerung der Preise). Letztere tritt laut neoklassischer Geldtheorie vor allem in Phasen des Aufschwungs und der Hochkonjunktur ein.

[9] Der Keynesianismus geht zurück auf den liberalen britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Dieser hatte eine tiefgestaffelte politische Steuerung der Marktökonomie mit dem Ziel, die langfristige Stabilität des Kapitalismus zu erhöhen, vorgeschlagen. Bis in die 1970er-Jahre orientierten sich nahezu alle Regierungen in marktwirtschaftlich organisierten Ökonomien an seinen Prinzipien.

[10] Der Begriff „Fordismus“ geht zurück auf den Industriellen Henry Ford, der als einer der ersten die systematische Nutzung von Fließbändern mit vergleichsweise hohen Löhnen kombinierte. Diese Konstellation führe gesamtgesellschaftlich zu einer Phase, in der eine Ausweitung der kapitalistischen Produktion und eine Erhöhung des individuellen Konsumniveaus der Arbeiter:innen Hand in Hand gingen.

[11] Diese Verschiebung ist Gegenstand vieler Ansätze in den (kritischen) Sozialwissenschaften, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen sind. Vgl. etwa Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018, S. 181ff.; sowie Michael Hardt/ Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M./New York: Campus 2002, S. 291ff.; sowie Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle: Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster: Unrast 2013, S. 52 – 105

[12] Vgl. „Die globale autoritäre Formierung“ in diesem Reader

[13] Eine Benchmark ist ein Vergleichsmaßstab oder Referenzwert, der als Grundlage für Leistungsvergleiche dient. Solche Maßstäbe wurden in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt in unterschiedlichsten Arbeitsbereichen, nicht zuletzt auch im universitären Kontext eingeführt.

[14] Der Begriff wird genutzt, um den „Wert“ von Menschen für Unternehmen und Volkswirtschaften zu beschreiben, wobei er die Bedeutung von Bildung auf deren Funktion zur Ausbildung der Ware Arbeitskraft reduziert. Nicht zu Unrecht wurde er im Jahr 2004 zum Unwort des Jahres gewählt.

[15] Sie bezahlen den relativen ökonomischen Erfolg in aller Regel allerdings mit überlangen Arbeitstagen und nervenaufreibendem Projektmanagement.